„Jetzt bin ich offiziell hier“, sagt Aurica, als sie endlich am Ziel ist. „Manchmal läutet die Polizei an der Tür und fragt, was mit der Nachbarin ist. Ich spreche ganz leicht. Ruhig, ohne Sorgen – es ist ein total anderes Gefühl.“ Für einen Moment lächelt sie entspannt – und lässt uns ZuschauerInnen ahnen, wie viel Kraft das Leben in der Illegalität kostet.
Der Moment, in dem die Träume zerbrechen
Aurica ist eine von drei Frauen, die der österreichische Fernsehjournalist Ed Moschitz für seinen Dokumentarfilm „Mama illegal“ mit der Kamera begleitet hat. Wie Aurica kommen auch Raia und Nastašia aus der Republik Moldau. Alle drei stammen aus demselben Dorf, sie sind illegal in die Europäische Union eingereist, eine legale Einreisemöglichkeit, um bei uns zu arbeiten, gibt es für sie nicht. Die Republik Moldau ist – anders als das Nachbarland Rumänien – kein EU-Mitglied.
Moschitz und sein Team haben die drei Frauen in Wien und Bologna begleitet: während sie von einer Arbeitsstelle zur nächsten hasten, um in fremden Wohnungen Staub zu wischen, Betten zu machen und Klos zu putzen. Dazwischen sprechen sie über ihre Situation: darüber, dass sie seit Jahren nicht beim Arzt waren und keinen Tag freihaben, darüber, dass man sie zwar braucht, ihnen aber keine Papiere gibt. Die Frauen wohnen zu mehreren in einem Zimmer. Fast täglich reden sie mit ihren Angehörigen, am Telefon oder über Skype: Gespräche, die viel Raum einnehmen und doch so vieles ungesagt lassen. Als ließe sich so eine Nähe aufrechterhalten, die die Frauen gleichzeitig suchen und fürchten.
Moschitz hat auch im Heimatdorf der drei Frauen gefilmt, zwanzig Kilometer von der EU-Außengrenze entfernt. Beiläufig setzt er die Kargheit der Landschaft, die Armut der Dörfer ins Bild: Menschen, die Altkleidersäcke nach etwas Brauchbarem durchwühlen, das Wasser, das rostfarben aus den undichten Leitungen kommt, die Kinder, die in Mützen und dicken Jacken im Klassenzimmer sitzen, weil die Räume nicht geheizt sind. Bei fast allen ist mindestens ein Elternteil im Ausland, manchmal leben sie bei den Großeltern oder bei Nachbarn, oft sind sie ganz auf sich allein gestellt.
Moldawien ist heute das ärmste Land in Europa
Der Grund ist einfach zu benennen: Die Republik Moldau, einst die Kornkammer der Sowjetunion, ist heute das ärmste Land Europas. „Fast ein Drittel der moldauischen Bevölkerung, die auf etwa 3,8 Millionen Menschen geschätzt wird, lebt von weniger als 2 US-Dollar täglich“, heißt es in einem Bericht, den der Evangelische Entwicklungsdienst „Brot für die Welt“, medico international und die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl im vergangenen Jahr gemeinsam herausgegeben haben. Der Durchschnittslohn liegt bei etwa 150 Euro, die Arbeitslosigkeit in manchen ländlichen Regionen bei achtzig Prozent. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration arbeiten deshalb mittlerweile 600.000 MoldauerInnen im Ausland, andere Schätzungen gehen sogar von 1,5 Millionen Menschen aus. Mit rund 1,8 Milliarden US-Dollar macht das Geld, das sie ihren Familien schicken, knapp 25 Prozent des Bruttosozialproduktes des Landes aus. Das Geld bewahrt viele vor der schlimmsten Armut, aber es sorgt auch für steigende Preise im Land. Neben Russland und der Ukraine gehören Österreich und Italien zu den Hauptzielländern der moldauischen MigrantInnen.
Frauen verlassen das Land, um im Ausland zu arbeiten und der Not zu entkommen
Es sind vor allem Frauen, die sich auf den Weg machen. Der Druck, der auf ihnen lastet, ist enorm. Vier- bis fünftausend Euro verlangen die Schlepper, die ihnen den Weg nach Europa bahnen; müssen sich die Familien das Geld leihen, verdoppeln sich die Kosten aufgrund der hohen Zinsen. Besuche zu Hause sind deshalb nur selten möglich – zu groß sind die Schwierigkeiten, zu hoch die Kosten für die Frauen, um hinterher erneut in die EU zu kommen.
Auch Aurica kann sich erst nach zwei, Raia sogar erst nach sieben Jahren zum ersten Mal zurück auf den Weg in ihr Heimatdorf machen, schwer bepackt mit Geschenken. Doch heimisch werden die beiden Frauen dort nicht mehr. „Der Augenblick, in dem die Träume zerbrechen“ nennt der Filmemacher diesen Moment.
Sieben Jahre hat Moschitz seine Protagonistinnen mit der Kamera begleitet. Und obwohl zwei der drei Frauen schließlich die ersehnten Papiere erhalten, hat sein Film kein Happy End. Nastašia lebt nach wie vor illegal in Österreich und weiß, dass sie ihre Tochter längst nur noch mit leeren Versprechungen vertröstet. Raia kann den Schmutz und die Armut zu Hause nicht mehr ertragen; ihrem Mann und ihren Kindern ist sie nach sieben Jahren eine Fremde. Aurica und ihre fast erwachsenen Kinder bekommen 2010 Visa und ziehen nach Österreich, wo Auricas Tochter ihrer Mutter von nun an beim Putzen der Wohnungen hilft. Ihr Mann hat sich nur drei Monate nach Auricas Rückkehr umgebracht; das Traumhaus, für das sie so schwer geschuftet hat, steht nun leer.
Moschitz´ Film zeigt: Das EU-Grenzregime ist gerade so durchlässig gemacht, dass es die Ehrgeizigsten, die Gesündesten, die Zähesten nach Europa schaffen. Es ist ein brutales System, selbst für diejenigen, die am Ende bleiben dürfen. Die Einzigen, die uneingeschränkt davon profitieren, sind wir.
„Mama Illegal“, Film von Ed Moschitz, 98 Minuten. Die DVD ist für 14,99 Euro über die Website der Produktionsgesellschaft erhältlich: www.goldengirls.at
Land ohne Eltern
Wer zahlt den Preis für die Abschottung der EU? Andrea Diefenbach rückt in ihren betörend schönen Fotos die Kinder der ArbeitsmigrantInnen aus der Republik Moldau ins Blickfeld.
„Land ohne Eltern“ heißt der Fotoband, für den Diefenbach vier Jahre lang immer wieder in die Republik Moldau gereist ist und dort Jungen und Mädchen mit der Kamera porträtiert hat, deren Eltern in Italien leben. Ohne regulären Aufenthaltsstatus und für ein besseres Taschengeld helfen sie dort bei der Ernte, pflegen Alte, arbeiten auf dem Bau oder in der Gastronomie, halten fremde Wohnungen sauber.
Auf den betörend schönen Farbaufnahmen, die Diefenbach in den moldauischen Dörfern gemacht hat, scheint die Zeit stillzustehen, werden die Einsamkeit und das endlose Warten der Kinder fast körperlich erfahrbar. Zu erwachsen, zu still, zu ernst für ihr Alter wirken die Mädchen und Jungen, die nicht selten völlig auf sich alleine gestellt ihren Alltag bewältigen. Diefenbach zeigt sie, wie sie sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern, den Abwasch oder die Wäsche erledigen, die Hühner versorgen, vor dem Fernseher sitzen. Und sie fängt die Gefühle ein, die sich in ihren Gesichtern spiegeln, wenn sie mit ihren fernen, fremden Eltern telefonieren: Verwundbarkeit, Glück, Sehnsucht.
Kurze Erläuterungen zu den Personen finden sich erst am Ende des Bandes. So erfahren wir, dass viele der porträtierten Kinder ihre Eltern jahrelang nicht gesehen haben. Verantwortlich dafür ist der sogenannte Sperrklinkeneffekt. Die Republik Moldau, einst die Kornkammer der Sowjetunion, ist heute das ärmste Land Europas – aber anders als das Nachbarland Rumänien nicht Mitglied der Europäischen Union. Moldauische ArbeitsmigrantInnen halten sich daher meist illegal in der EU auf – reisen sie nach Moldau, kommen sie so leicht nicht wieder zurück. Auf 250.000 schätzt das Informationszentrum für Kinderrechte in Kischinau die Zahl der Kinder, die derzeit ohne ihre Eltern in der Republik Moldau leben. Wer sich für die Gesichter hinter den Zahlen interessiert, sollte sich Andrea Diefenbachs Bilder ansehen.
Andrea Diefenbach: Land ohne Eltern, Kehrer Verlag 2012, 39,90 Euro. Von der Fotografin signierte Exemplare gibt es zum selben Preis über die Website: www.andreadiefenbach.com.