Im Wendland leben Bauern, Künstler, Kommunisten und Städter wundersam zusammen
Wendland – Synonym für alternatives Leben
„Einmal Toni, einmal Gabi.“ Ein kachektischer, junger Mann in Schlabbershirt und mit Dreadlocks balanciert zwei Teller. „Toni? Gabi?“ Der Raum ist voll, alle reden durcheinander, niemand will Toni und Gabi sein. Es ist Sommer, es ist heiß, da sitzen die meisten draußen, auf Holzbänken oder im Gras. Der Mann bahnt sich seinen Weg dorthin. Dabei steigt er über zwei sabbernde Krabbelkinder, einen Jute-Beutel, eine Leinenjacke, einen Schäferhund, einen Dackel und drei Katzen. „Toooni. Gaaabiiiii.“ Es winkt von links: „Hier.“ „Gabi ist für mich“, hallt es von der anderen Seite. Toni und Gabi bekommen gebackenen Kräuterkäse mit Chilisauce und Salat. Der sieht aus, als käme er gerade aus einem Freilandblumenbeet. Gabi lässt ihre Zunge genüsslich über ihre Lippen gleiten und ruft: „Valentina, Johanna, essen!“ Zwei Mädchen, acht und zehn, flitzen herbei: „Mama, da hinten im Stall werden gerade Ferkel geboren.“ „Jetzt bleibt erst mal hier.“ „Nö, dann verpassen wir alles.“ Gabi hat keine Chance, ihre barfüßigen Töchter hinterlassen eine Staubwolke.
Einen Abend in Meuchewitz, einem Dorf im Wendland
Donnerstag abend in Meuchefitz. Einmal in der Woche wird das alte Tagungshaus zur Kneipe. Über einen Lattenzaun ist ein Laken gespannt, darauf steht: „Kein Mensch ist illegal“. Es verliert allmählich seine Spannung.
Meuchefitz liegt in der Nähe von Waddeweitz und unweit von Orten, die Namen tragen wie Schmarsau, Schwiepke, Bockleben, Kröte, Platenlaase, Dickfeitzen. Die Dörfer gehören zum Landkreis Lüchow-Dannenberg, der besser bekannt ist als „das Wendland“. Das liegt im Vierländereck: Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern.
Als es die Mauer noch gab, kannten die Region westlich der Elbe fast nur Anhaltiner, die in der Nähe der Grenze wohnten, und ein paar Westberliner. Auf der Landkarte ragte das Wendland wie ein Daumen in den Osten hinein. Für Westberliner war eine Reise hierher die kürzeste Verbindung zur unberührten Natur. Es war der am dünnsten besiedelte Landstrich im Westen.
Wendland? Ach so, Gorleben. Dieses Atomnest
Sagt man heute, man fährt ins Wendland, schauen die meisten noch immer so, als spräche man in Rätseln. Das ist dort, wo Gorleben liegt. Ah, jetzt weiß ich, wo das ist. Gorleben, das Nest mit dem Atombunker und den Antiatomkraftlegenden.
Ende der achtziger Jahre wurden Pläne bekannt, in die strukturschwache Region ein sogenanntes nukleares Entsorgungszentrum zu pflanzen – mit Endlager, Zwischenlager, Wiederaufbereitungsanlage. Politik und Atomwirtschaft stellten eine schlichte Rechnung auf: Die Gegend wird von der CDU beherrscht, über neue Arbeitsplätze freuen sich die Leute immer. Und wenn Chaoten zu Demonstrationen anreisen, dann sperrt die Polizei den Daumen einfach ab. Doch die Idee ist nicht aufgegangen, es hagelte erbitterte Proteste. Von Bauern, strammen CDUlern, Hausfrauen, Ökobauern. Sie nagelten gelbe Kreuze an ihre Türen und verweigerten ihr Kreuz bei Wahlen. Eine Bürgerinitiative gründete sich. Als 1977 hunderte Trecker in die Landeshauptstadt Hannover knatterten, erklärte der damalige CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht Gorleben für gescheitert.
Ein Ort revolutionärer Ideen und alternativen Lebens
Der Erfolg des Widerstands hatte offenbar so viel Charme, dass sich bald immer mehr Hamburger, Bremer, Westberliner, Delmenhorster und Lüneburger unter die Einheimischen mischten. Vor allem Studenten, Nachzügler-68er, Anarchos, Mao-Anhänger, Sozialisten, Künstler. Leben im Wendland, das verhieß Aussicht auf tatsächliche Selbstbestimmung und das Gefühl von grenzenloser Freiheit.
Damals kam auch Hansel. Er war Kommunist und aus Westberlin. Die Mauerstadt habe ihm keinen Platz mehr geboten für seine revolutionären Ideen, sagt er. Mit ein paar anderen gründete er das Meuchefitzer Tagungshaus, einen Ökohof und eine Wagenburg. „Hier wurden wir nicht stigmatisiert.“ Zehn Jahre lang bauten die acht bis zehn Aussteiger Kohl, Kartoffeln und Karotten an, hielten Kühe für die Milch und Schweine für das Fleisch. Sie brauchten kein Geld. Doch sich selbst zu versorgen, heißt vor allem, von morgens bis abends im Stall und auf dem Feld zu schuften. Da bleibt keine Zeit fürs Schreiben von Manifesten und Flugblättern. So entstand die Idee mit der Kneipe. Der Hof wurde aufgelöst, jetzt liefern benachbarte Biohöfe Gemüse, Obst und Brot.
Das Wendland ist längst Synonym geworden für alternatives Leben. Und Meuchefitz vermutlich die letzte Oase sozialistischen Daseins. „Was zahlste?“ „Heute mal fünf.“ So geht das zu an der Theke, wo jeder seinen Namen sagt und was er essen und trinken möchte. Und: Jeder gibt, was er kann. Frischgebackenes Körnerbrot liegt neben dem Tresen in einem Kasten, daneben steht eine offene Kasse. Flugblätter laden ein zu Demos, Flohmärkten und dem „offenem Kampf gegen Rechts“.
Hansel hämmert an der Tür seines Bauwagens. Hansel ist jetzt 69, trägt Latzhosen und das graue Haar offen. Neben die Wagenburg hat sich vor Jahren eine junge Familie ein neues Haus hingesetzt. Manchmal kommt die Polizei und will die „Alternativen“ observieren. Die Beamten fragen schon mal Nachbarn und Leute im Dorf aus. Doch die lassen sich nicht aushorchen.
Das Wendland ist eine Art Anachronismus und ein Landstrich, den man nicht richtig versteht. Natur, Pferde und Atomkraft sind das Einzige, womit hier noch Geld verdient wird. Es geht ein politischer Riss durch die Gegend und durch so manche Familie. Wie Familie W. Vater W. arbeitet im Endlager und wählt CDU, Mutter und drei Kinder sind gegen Atomkraft und wählen die Grünen. Mutter und Kinder waren früher mit dabei, wenn mal wieder einer der Bohrtürme im Werk besetzt oder die Polizeikette durchbrochen wurde. Abends schauen alle – gemeinsam mit dem Vater – die Tagesschau. Sind wir auch dabei?
Ansonsten spielt Gorleben im Leben der Wendländer keine große Rolle. Im Gegenteil. Wer einmal hier Luft geschnappt hat, den zieht es immer wieder her. So wie Hugo. Der ist 71, kommt aus Hamburg und hat sich vor elf Jahren in Kapern einen Hof mit drei Ruinen gekauft. Zuerst hat er das Dach des Haupthauses gedeckt, danach eine der beiden Scheunen hergerichtet und den einstürzenden Stall abgestützt. Zwischendurch ist Ramona zu ihm gezogen. Sie ist 37 und seine Freundin. Gemeinsam haben sie zwei Zimmer ausgebaut, das Bad und die Küche. Vor kurzem hat Hugo das Fundament für die zweite Scheune gegossen. Wenn sie fertig ist, will Hugo aus ihr heraus aufgemöbelte antike Schränke und Tische verkaufen. Hugo macht Pläne, als würde er 140. Er hat fast ein Jahr gebraucht, um seinen Wasseranschluss zu legen. Und noch zwei, um die Abwassergrube auf Stand zu bringen. In Hamburg hat er bei den Wasserwerken gearbeitet.
Das Leben hier folgt einem anderen Rhythmus
Die Wendländer brauchen die Welt um sich herum nicht. Eine Bitte an die Frau im gelben Postauto, das sie jeden Mittag über die Dörfer bringt: „Werfen Sie die Post nicht in den Briefkasten, sondern legen sie sie auf die Veranda.“ Die Umschläge und Zeitungen steckten immer im Kasten. Der Gärtner in Gartow scheint an Gedächtnisschwund zu leiden. „Ich rufe Sie an, wenn Ihre bestellten Pflanzen da sind“, sagte er. Gemeldet hat er sich nie, der Efeu rankt inzwischen an anderen Häuserwänden hoch. „Lebst du etwa noch immer in der Stadt?“, fragt Dieter vom Gemeinschaftshof in Güstritz. Dort leben unzählige Frauen, Männer und Kinder. Die Ältesten über siebzig, die Jüngsten im Kita-Alter. Jeden Mittag essen sie zusammen in der großen Küche. Ist Pflicht, soll die Gemeinschaft stärken. Nur am Sonntag darf jeder essen, wann und wo er will.
„Ich bleibe noch eine ganze Weile in der Stadt, ich lebe gern dort.“ Dieter schüttelt den Kopf, so ein Leben inmitten von Beton und Autos, das geht doch gar nicht. Er greift nach der Hacke. Die Erde auf dem Feld muss gelockert werden. Sonst gibts im nächsten Jahr keine Paprika.
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