Das Mädchen ist anders als die anderen. Und weil es anders ist, muss es sterben.
Graphic-Novel: Meretlein von Gottfried Keller
Was ist es, dass mich so fesselt? Auf dem Cover des kleinen Heftchens blickt mich das Gesicht eines jungen Mädchens an. Seine Stirn ist bleich, die Augen groß und ernst. Seine Haarre und der Hintergrund sind in rot gehalten. Die Farbe des Lebens, die Farbe des Feuers, die Farbe des Sterbens. Hinter der bleichen Haut leuchten grau die Augen des Todes. Hinter verschlossenen Lippen blitzen die Zähne im Schädel auf. Leben und Tod in einem. Empfunden und gezeichnet von der Schweizerin Laura Jury, die „Meretlein“ aus Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“ das Antlitz verliehen hat. Der Titel besticht aber nicht nur durch den eindringlichen Mädchenkopf, sondern auch durch seine Haptik. Der Einband des A5-großen Heftchens fühlt sich an, als würde man über ein Wachstuch streichen. Glatt, kühl, mit etwas Volumen. Er erinnert an Decken auf Küchentischen, damit der Kinderbrei nicht auf das gute Leinen kleckert oder das Essen, das den Alten aus den Mundwinkeln läuft. Wachstuch für die also, die sich etwas außerhalb der guten Tischmanieren bewegen.
Was das alles mit dem Meretlein zu tun hat? Erst einmal nichts. Außer, dass es mich beim Lesen und Blättern schaudert. Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, das etwas Besonderes ist. Nun sind zwar alle Kinder etwas Besonderes – aber nicht jedes Kind erfährt Verständnis und Zuneigung, wenn es wirklich besonders ist, also anders ist als die anderen. Und besonders auffällig sind die, die sich den Regeln der gängigen Erziehung verweigern oder sich dem jeweiligen gesellschaftlichen Konsens entziehen. „Meret sei aus der Art geschlagen“, schrieb die Mutter, „sie interessierte sich nicht für die Dinge, die in der Familie wichtig waren, vor allem nicht für die Schule und die Religion.“, schreibt der Erzähler der Geschichte. Dieses Mädchen liebt das Leben, es freut sich an den Blumen und Tieren, es lauscht dem murmelnden Wasser, hilft anderen, musiziert oder träumt sich in den Tag hinein. Nur eines kann und will es nicht: zu Gott beten. Da bleiben die Lippen geschlossen, die Zunge stumm. Da hilft kein Zureden, Überreden oder Bilder an die Wand malen, dass einem ohne Gott der Weg in den Himmel verschlossen bleibt. Das Meretlein soll ein liebliches, ein zartes, ein schönes Kind gewesen sein. Doch weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird das Mädchen in Pflege zu einem Pfarrer auf das Dorf gegeben. Damit er es an Kindesstatt annehme und erziehe. Was dann an diesem Un-Ort geschieht, entfaltet in Kellers Sprache eine Wucht, die uns noch heute das Herz zusammenkrampft. So notiert der Pfarrer in sein Tagebuch: „Da sie die Bettdecke über den Kopf zieht, wenn ich abends mit ihr beten will, habe ich die Decke entfernen lassen. Muss sie nun frieren nachts, wird ihr das auf den rechten Weg helfen.“ oder „Der kleinen Meret habe ich ihre wöchentlich zustehende Strafe erteilt. Dazu habe ich mir eine neue Rute besorgt, die ihr Werk ausgezeichnet verrichtet.“ Später wird sie in eine Räucherkammer eingesperrt, noch stärker gezüchtigt, einer Hungerkur ausgesetzt. Hilfe von anderen wird vereitelt. Mehrmals entwischt sie. Läuft zum See, springt ins Wasser, vergräbt sich in die Erde. Diese kleinen Fluchten werden noch intensiver durch die sehr klaren, einfachen schwarz-weiß Grafiken von Laura Jurt.
Aber beten, beten kann sie nicht.
Das geht so lange, bis das Mädchen ganz und gar eingesperrt wird. Es kann nicht beten. Es wird nicht beten.
Es ist die letzte Maßnahme, die der Pfarrer im Namen des Herren anwendet. Meretlein stirbt. Er hat sie umgebracht. Er hat sie von nun an auf dem Gewissen.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Das passiert heute noch. Weil sie Angst vor dem Anderen haben.
Gottfried Keller, Meretlein, Bearbeitet von Bruno Blume, Illustrationen von Laura Jurt, ISBN 978-3-7269-0617-7, 38 Seiten, 6 Euro, SJW Nr. 2415 Schweizerisches Jugendschriftenwerk, www.sjw.ch
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