Sie bewegen sich auf dünnem Eis. Ihre Kunst ist politisch und kann zum Verlust des Arbeitsplatzes oder zur Verhaftung führen. Beispiele aus Russland, Weißrussland und Belarus.
Mit Mut und Aktionen gegen autoritäre Strukturen
Ja, sie habe immer wieder Angst gehabt. Angst davor, dass sie beim Hineingehen in den Verhandlungssaal, im dem gegen die Frauen der Punk-Gruppe Pussy Riot geurteilt wurde, behindert, weggeschoben oder bedrängt werden würde. Das erzählt die russische Künstlerin und Journalistin Viktoria Lomasko, 35, die mit ihren Zeichnungen aus den russischen Gerichtssälen immer wieder für Aufmerksamkeit sorgt. Lomasko ist eine der Künstlerinnen, die sich entschlossen hat, den Mund aufzumachen. Für die Freiheit der Meinung, für die Chance eines selbst bestimmten Lebens, für mehr Gerechtigkeit. Im heutigen Russland, in dem Staat und Kirche im Schulterschluss die Bandagen immer enger ziehen, gilt das Zeigen der Wirklichkeit schon als subversiv und als Akt des Widerstandes. Aber auch in anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, wie in Weißrussland oder Belarus, sieht es bekanntermaßen nicht anders auch. „Man könnte seine Arbeit verlieren oder als Extremist aufgegriffen werden“, berichtet Lomasko. Damit steht sie nicht allein. Über eine Atmosphäre aus Angst und Kontrolle berichten viele Künstlerinnen und Künstler. Und dafür ist es nicht ausschlaggebend, ob sie sich mit Pinsel, Street-Art oder Perfomances ausdrücken; ob sie als Kuratorinnen, Musiker oder Journalisten unterwegs sind. Der Staat hat Angst. Angst vor der impulsiven, ungezügelten Gebärde des Persönlich-Politischen.
Kunst ist unberechenbar. Kunst sorgt für Überraschungen und irritiert.
Wie im Juli 2012. Da stellte sich Pjotr Pavlenski in Solidarität mit den verurteilten Frauen von Pussy Riot vor die Kasaner Kathedrale in St. Petersburg. Seinen Mund hatte er mit starken schwarzen Zwirn zugenäht. Auf dem Schild stand: „Die Performance von Pussy Riot war eine Wiedergabe der berühmten Tat von Jesus Christus (Matthäus 21:12-13).“ Die Passage, auf die sich das Transparent bezieht, ist die Szene, in der Jesus die Geldwechsler und Krämer aus dem Tempel vertreibt. Für Pavlenski wurde die Kirche zu einer strafrechtlichen Institution. Als er im Vorfeld seiner Aktion mit einem der Geistlichen sprechen wollte, lehnten diese ab. Anderthalb Stunden stand er dann schweigend mit seinem Transparent vor dem Gotteshaus. In dieser Zeit versuchte ein beherzter Geistlicher ihn mit Öl zu begießen und zu beschwören, dass er doch verschwinden möge. Doch nichts tat sich. Der Spuk ließ sich nicht beenden. Die Zeit, in der das Beten noch geholfen hat, war für den Gottesmann vorbei. Dann traf die Polizei ein. Sie verlangte den Ausweis von Pavlenski. Doch der reagierte nicht. Wie konnte er auch als lebende Kunst-Skulptur ein Dokument vorweisen? Die Beamten scheuten sich, ihn anzufassen. Sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. War es ein Streich? War es Terror? Oder war es gar der Teufel? – Schließlich riefen sie einen Krankenwagen. Dieser lieferte Pjotr Pavlenski in eine psychiatrische Ambulanz ein. Der diensthabende Arzt verstand ihn ohne viele Worte, berichtet der 29-Jährige rückblickend. Er erklärte ihn für zurechnungsfähig und „unterstützte ihn als Mensch“.
Regelmäßige Aktionen gegen das politische System
„Ich gehöre auch zu Pussy Riot!“ ruft eine Frau nach der anderen in die Kamera. Sie tragen die bunten Masken. Das war eine andere Aktion vor dem zu erwartenden drakonische Urteil der Justiz im Schauprozess um die Frauen-Punk-Band. Die ukrainische Filmerin Aksynia Kurina hat diese Frauen aufgenommen und im Internet veröffentlicht. Nicht nur für die in Kiew lebende Künstlerin war das riskant, sondern auch für jede der sich solidarisierenden Frauen. Wurde eine von ihnen erkannt, konnte sie nicht mehr in ihrer Wohnung bleiben, nicht mehr telefonieren oder durch das Netz surfen.
Doch die Künstlerinnen ließen sich nicht einschüchtern. An jedem Tag einer öffentlichen Gerichtssitzung inszenierten sie ein Spektakel. So kletterten sie auf das gegenüberliegende Dach oder bauten einen Käfig und riefen: „Nehmen sie uns als Unschuldige für die unschuldigen Mädchen.“
Frauen sichtbar machen
Jaroslava Bondarchuk, 25, aus Charkow in der Ukraine, setzt sich ebenfalls für Frauen ein. Als Soziologin setzt sie Elemente der Inszenierung ein. Für eines ihrer Projekte mietete sie eine Straßenbahn, die am Weihnachtsabend nur für Frauen fuhr. Für Frauen, die lieber miteinander etwas Zeit verbrachten als den Abend alleine zu bleiben. Die Bahn kurvte eine Stunde lang im Kreis. Das sprach sich rum. Im nächsten Jahr kamen sogar Frauen aus den umliegenden Dörfern angereist, um mitzufahren.
Eine Frage stellt sich immer wieder: Wo können wir ausstellen, unsere Kunst oder Aktionen zeigen, die Menschen erreichen? Die offiziellen, kommunalen Orte werden streng nach politischen Proporz kuratiert; inoffizielle Räume sprechen sich nur in der Szene rum. Bondarchuk Idee war es, in Geschäfte zu gehen. „In Läden, in denen man alles kaufen kann außer Glück und Liebe“. Sie fragte Ladenbesitzer, ob sie einen Teil ihres Schaufensters zur Verfügung stellen würden. Einige machten mit. Künstlerinnen stellten dort ihre Arbeiten aus.
Für Gulya Sultanova, 38, aus St. Petersburg gehören Drohungen inzwischen zum Alltag. „Russland wird immer totalitärer“, meint die Leiterin des LGBT-Filmfestivals „Bok o Bok“. „Die Repressionen richten sich jetzt in erster Linie gegen kulturelle Organisationen und Aktionen“. Der Staat habe Angst. Vor jeder freien Äußerung, vor jeder Unzufriedenheit. So wurde auch das Filmfestival zum Ausdruck des Protests.
Andere Künstlerinnen wiederum geben Frauen ein Gesicht. Frauen als Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Intellektuelle. Sie schneiden Schablonen aus und sprühen Porträts und Namen an die Wände. Wir sind sichtbar!
Sie alle sind fest davon überzeugt, dass durch ihre Kunst und Kulturprojekte die Menschen genauer hinsehen, kritischer werden und beobachten, dass Veränderung möglich ist. Das nichts so bleiben muss, wie es ist.
Die Solidarität mit Nadjeschda Tolokonnikowa, Frontfrau von Pussy Riot, hält an
Die Sängerin und Pussy-Riot-Aktivistin Nadjeschda Tolokonnikowa verbüßt derzeit eine zweijährige Haftstrafe im Lager. Die gnadenlose Hand des Staates gegen die Mutter einer Tochter erregte politisches Aufsehen und sorgte für eine Welle weltweiter Solidarisierung. Zumindest so lange, wie der „Erregungszustand“ in den Medien anhielt.
Für Achtung sorgen ihre Haltung und Widerstand gegen die Bedingungen im Lager. Für einen Aufschrei ihr plötzliches Verschwinden während der Verlegung aus dem Lager in Mordiwien nach Krasnojarsk in Sibirien. Dass sie sich bislang nicht beugen lässt, setzt Zeichen.
Dafür sorgen auch die Künstler mit ihren Arbeiten. Dafür machen sie es. Und dafür lassen sie sich weder einschüchtern noch mundtot machen.
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