Weibblick - Magazin aus Frauensicht

Magazin aus Frauensicht

Unheimliche Wutbürger

„Straftäter rein, Gäste raus: Existenz weg“ schreit es vom Gartenzaun der Waldschlösschen-Villa, wo Eleonore Klewitz gelegentlich Kaffee ausschenkt und ein paar durchfahrende Radler bewirtet. Ein Dorf in Aufruhr.

Eine Stunde nördlich von Berlin, und alles könnte so schön sein: Ein wenig abgelegen, hinter Bäumen versteckt liegt der Ort Seilershof. Am Ortsrand ein klarer Badesee mit ein paar Dauercampern. Die Grundstücke sind groß, die Häuser dösen alt und gepflegt in der Mittagssonne vor sich hin. Auf der Dorfstraße könnte man Rollschuh laufen oder Kunstrad fahren, so makellos glatt ist der Asphalt. Selten kommt ein Auto vorbei. 1754 soll Friedrich der Große seinem königlichen Oberförster Johann Georg Seiler die damals noch wüsten Ländereien geschenkt haben, der machte sie urbar. Einige der Gebäude, die damals erbaut wurden, seien heute noch erhalten, heißt es in der Dorfchronik. Das idyllische Kirchlein wurde zum 200-jährigen Dorfjubiläum geweiht, die freiwillige Feuerwehr liegt schräg gegenüber.

Doch nun ist es vorbei mit der Idylle in Seilershof. „Straftäter rein, Gäste raus: Existenz weg“ schreit es vom Gartenzaun der Waldschlösschen-Villa, wo Eleonore Klewitz gelegentlich Kaffee ausschenkt und ein paar durchfahrende Radler bewirtet. „Maßregelvollzug RAUS! Ortsfrieden REIN!“ mahnt ein Banner auf dem Nachbargrundstück, „KEINE psychisch kranken VERBRECHER in SEILERSHOF“ fordert ein Transparent auf einer Wiese, und auch ein paar Häuser weiter wird in großen Lettern gegen das geplante „Straftäterheim“ protestiert. Längst nicht alle Grundstücke tragen solche Beflaggung. Aber eine Interessengemeinschaft wurde gegründet.

Protest gegen das geplante "Straftäterheim".

Protest gegen das geplante „Straftäterheim“. Foto: Karin Nungeßer

Doch worum geht es hier eigentlich?

Zurück am heimischen Schreibtisch, finden sich die Hintergründe online. Man stelle nicht das Heim an sich infrage, „sondern die Eignung des gewählten Standortes“. So hat es Jörn Preugschat, einer der Initiatoren und Wortführer des Protests, unter dem listigen Pseudonym „Gallier“ in einem Online-Kommentar an die Märkische Allgemeine und dann noch einmal unter seinem eigenen Namen als Leserbrief geschrieben. Und auch, dass er keinen Seilershofer kenne, der dieses Projekt befürworte und dass bei einer Unterschriftenaktion „fast 100 Prozent der volljährigen Bewohner“ gegen das geplante Projekt unterschrieben hätten. Preugschat ist Ortsvorsteher von Seilershof und damit so etwas wie der Bürgermeister in einem Ort, der kein eigenständiger Ort mehr ist und deshalb keinen Bürgermeister mehr hat. Sicher, „diese Menschengruppe“, schreibt er gönnerhaft über die künftigen BewohnerInnen, „meist aus Berlin stammend, muss auch irgendwo leben.“ Um nachzusetzen: „Nur, warum werden diese Personen nicht da integriert, wo sie herkommen? Zu integrieren gibt es ja in Seilershof wohl nichts, da nichts vorhanden ist.“ Und noch eine Frage, auf die er die Antwort schon parat hat: „Sind denn Straftäter, nur weil sie strafunmündig sein sollen, weniger gefährlich? Meiner Meinung nach sind diese Personen noch viel gefährlicher, da sie eine viel geringere oder überhaupt keine Hemmschwelle besitzen, denn sie wissen ja nicht, dass es falsch ist, ein Wohnhaus anzuzünden, in dem sich Personen, ja gar Kinder befinden.“ Und damit ist für ihn die Sache klar: „Wenn wir uns alle selbst mal jeder für sich die Frage stellen, ob man mit dem Risiko in der Nachbarschaft leben möchte, ist die Frage nach dem Standort wohl schon beantwortet.“ Zumal man in Seilershof ja nicht nur leben, sondern auch Geld verdienen will: „Welche Touristen werden dann zukünftig in Seilershof durch ständiges lautstarkes Gebaren und dauerhafte Geräuschimmissionen [sic!] angelockt?“

Denn darum geht es in Wirklichkeit: Geplant ist der Bau eines Wohnheims für 14 geistig behinderte Menschen. Manche von ihnen, so hat es Erich Boehlke, der Vorstandsvorsitzende des Vereins „Gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderungen“ (GIB), der das Wohnheim betreiben wird, der Märkischen Allgemeinen Zeitung erzählt, seien wegen geringfügiger Delikte strafrechtlich in Erscheinung getreten, waren aber aufgrund ihrer verminderten Intelligenz nicht strafmündig. Es sind keine Straftäter, das hat Boehlke den Seilershofern mehrfach versichert. Auch die Märkische Allgemeine hat das geschrieben. Trotzdem werden die Banner nicht abgehängt, die Interessengemeinschaft nicht aufgelöst, die Protestaktionen nicht eingestellt. Im Gegenteil. Glaubt man Preugschat, soll es nun erst richtig losgehen.

Und so fragt man sich unwillkürlich, während man wieder einmal durch Seilershof radelt, auch wenn einem der Appetit auf Eleonore Klewitzs Waldschlösschen-Kaffee mittlerweile vergangen ist, wie wohl den Seilershofern zumute ist, die krank sind oder einfach nur alt. Oder die mit dieser Hetze nichts zu tun haben wollen, weil es sie nicht stört, mit behinderten Menschen im selben Dorf zu leben. Und ob man sich, wenn man selbst in Seilershof wohnte, trauen würde, ein entsprechendes Transparent in den Garten zu hängen: „Wir heißen die neuen Seilershofer herzlich willkommen.“ Oder ob einem dann die Fensterscheiben eingeschmissen würden.

Seilershof ist überall

Und noch etwas geht einem durch den Kopf. Ist das, was in Seilershof geschieht, ein Brandenburger-Provinz-Problem? Oder ist es so: je unübersichtlicher die allgemeine Lage sich gestaltet, je größer das Unsicherheitsgefühl wird, umso verbitterter verteidigen die Besitzenden ihre Privilegien, und zwar überall im Land? Für Letzteres sprechen die Fälle, die die Panorama-Redaktion für ihre Sendung vom 23. August 2012 zusammengetragen hat: Da gründeten EinwohnerInnen des Stuttgarter Speckgürtels eine Bürgerinitiative gegen den Bau eines Seniorenwohnheims, da liefen in einem Hamburger Villenviertel BewohnerInnen gegen eine betreute Wohnanlage für sogenannte schwer erziehbaren Jugendlichen Sturm, da setzten im Göttinger Professorenviertel EinwohnerInnen vor Gericht durch, dass die Jugendhilfe mit einer Nachmittagsbetreuung für zehn Jugendliche in ein schäbiges Gewerbegebiet umziehen musste, damit ihre Villen nicht an Wert verlieren. Der Befund der Panorama-Redaktion dazu lautete: „Das Besitzbürgertum schottet sich zunehmend von allem ab, was ihre heile Welt gefährdet.“ Und der Bielefelder Sozialforscher Prof. Wilhelm Heitmeyer verwies vor der Kamera auf seine Untersuchungen, die eine breite Entsolidarisierung innerhalb unserer Gesellschaft belegen: Danach stimmen mittlerweile 61 Prozent der Befragten der Aussage zu, in Deutschland müssten zu viele schwache Gruppen von den anderen mitgeschleppt werden.

Wenn Heitmeyer recht hat – und vieles spricht dafür – wenn sich also immer größere Gruppen aus der Solidargemeinschaft verabschieden, wenn sie alles Fremde als Bedrohung sehen und sich beharrlich weigern, auch nur für einen Augenblick eine fremde Perspektive einzunehmen („Würde ich als Jugendlicher, der nicht bei seinen Eltern leben kann, lieber in einem Wohnviertel oder in einem Gewerbegebiet leben?“ „Was wäre mir, hätte ich eine geistig behinderte Tochter, lieber: wenn sie in der Großstadt oder in einem Dorf mit wenig Verkehr leben könnte?“), wenn also die grundlegende Fähigkeit zur Empathie bei immer größeren Bevölkerungsteilen verloren geht, und zwar ausgerechnet bei denjenigen, die Bildung, Besitz, materielle Sicherheit und oft genug die Macht haben, muss uns dann nicht angst und bang um unser Zusammenleben werden? Und was heißt das für unsere „westlichen Werte“ und unsere Zivilisation, auf die wir so gerne stolz sind, wenn Solidarität, Minderheitenschutz und die Bereitschaft zum Teilen so rasch den Bach runtergehen?

Und noch etwas beleuchtet das Beispiel Seilershof: dass Transparenz und Mitbestimmung nicht die politischen Allheilmittel sind, für die wir sie gerne halten. Oder genauer: dass sie nicht voraussetzungslos sind. Es gehören Toleranz dazu, guter Wille, die Bereitschaft, anderes gelten zu lassen als die eigenen Bedürfnisse. Es gehört die Fähigkeit dazu, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, Verantwortung zu übernehmen, sich als Teil einer Gemeinschaft zu sehen, die über die Grenzen des eigenen Grundstücks, des eigenen Viertels, der eigenen sozialen Gruppe hinausgeht.

Nachtrag

Kurz nachdem dieser Text entstand, wurde eine Online-Petition für einen sofortigen Baustopp der Wohnstätte auf den Weg gebracht. Zu den 40 namentlich genannten UnterzeichnerInnen gehören neben zahlreichen, auch auswärtigen Mitgliedern der Familie Preugschat auch Eleonore Klewitz und die NPD-Kandidatin für den Brandenburger Landtag von 2009, Kerstin Michaelis. Weitere 20 UnterzeichnerInnen zogen es vor, anonym zu bleiben. Nur gut die Hälfte der Unterzeichnenden kam aus dem Amt Gransee und Gemeinden, somit votierten gerade einmal 0,33% aller EinwohnerInnen für den Baustopp.

Parallel dazu meldeten sich auch die Befürworter unter den Seilershofern zu Wort: Nach einem Beitrag in der Märkischen Allgemeinen stellten sie klar, dass sie die Nutzung des lange unbebauten Grundstücks begrüßen und den neuen Bewohnern offen gegenüberstehen. Sogar einen offenen Brief verfassten sie. Dort heißt es unter anderem: „Die Betriebserlaubnis zur Führung der Wohnstätte sieht keine Personen als Bewohner vor, welche als Straftäter oder Verbrecher bezeichnet werden. Die Plakatierung an Zäunen und Häusern im Ort mit genau diesen Begriffen ist nicht richtig und stellt gegenüber den zukünftigen Bewohnern eine Fehlinterpretation dar.“ Mittlerweile sind die meisten Transparente abgehängt, der Betreiber geht fest davon aus, dass die neuen Seilershofer im Frühsommer 2013 wie geplant einziehen können.

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