Warum Mithu M. Sanyals kulturhistorische Analyse zum Thema Vergewaltigung trotz einiger Mutlosigkeiten unbedingt lesenswert ist
Kein Verbrechen wie jedes andere
Warum Mithu M. Sanyals kulturhistorische Analyse zum Thema Vergewaltigung trotz einiger Mutlosigkeiten unbedingt lesenswert ist
Die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp hat kürzlich in ihrem Blog eine Frage aufgeworfen, die ich mir so ähnlich auch schon gestellt habe: Wenn ich die Wahl hätte, vergewaltigt oder zusammengeschlagen zu werden, wofür würde ich mich dann entscheiden?
Diese Frage ist deshalb so aufschlussreich, weil sie mit einer ganzen Reihe uneingestandener Übereinkünfte bricht. Natürlich gibt es rationale Einwände dagegen: etwa, dass das Nachdenken darüber spekulativ ist, weil ich weder weiß, wie es ist, vergewaltigt, noch wie es ist, zusammengeschlagen zu werden – doch das gilt für andere hypothetische Fälle ja auch. Auch dass ich vermutlich kaum je in eine Situation kommen werde, die mich vor eine derartige „Wahl“ stellen wird, scheint mir nicht das eigentliche Problem zu sein: Ich schätze auch die Chance gering ein, dass ich mich jemals entscheiden muss, was ich aus einem brennenden Haus rette, und könnte trotzdem sofort sagen, dass mir Notizbücher, Briefe und mein Laptop wichtiger als zum Beispiel Fotos wären. Das spezifische Problem mit dieser Frage ist meines Erachtens, dass der Satz „Ich würde lieber vergewaltigt werden (als zusammengeschlagen werden)“ – anders als zum Beispiel „Ich würde lieber bestohlen (als betrogen werden)“ oder „Ich würde lieber betrogen (als erpresst werden)“ – in unserer Kultur erst einmal undenkbar erscheint. Deshalb ist an dieser Frage vielleicht nicht so sehr die Antwort bedeutsam als das, was sie für sich genommen enthüllt: dass Vergewaltigung für uns eben kein Verbrechen „wie jedes andere“ ist.
Woher kommt das? Das ist die Frage, die die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal ins Zentrum ihrer kulturhistorischen Analyse stellt. „Es ist auffällig“, so Sanyal, „dass über sexuelle Gewalt häufig nicht als spezifisches Verbrechen gesprochen wird, sondern als eine Art Risiko der conditio humana – solange diese Menschen Frauen sind.“ Vergewaltigung wäre demnach im allgemeinen Bewusstsein weniger eine konkret beschreibbare Gewalttat (wie Raub, Körperverletzung oder Nötigung), deren Opfer manche Menschen werden und andere nicht, als ein sehr reales und äußerst wirkmächtiges Bedrohungsszenario, das alle Mädchen spätestens mit Eintritt in die Pubertät umgibt: „Nach wie vor gehört die Warnung vor Vergewaltigung zu den Initiationen in die Geschlechterverhältnisse“, schreibt Sanyal. „Zuweilen noch vor jeder Form der sexuellen Aufklärung erfahren Mädchen, dass sie aufpassen müssen – in der Regel ohne nähere Informationen, wie sich das gestalten soll.“
Was unseren Umgang mit Vergewaltigung ausmacht, ist neben der symbolischen Aufladung, dass es sich dabei – scheinbar – um ein Verbrechen mit klar verteilten Geschlechterrollen handelt und zugleich um das Verbrechen, „das uns am meisten gendert“, wie Sanyal erläutert: Denn nicht nur kommen Frauen darin nur als Opfer vor und Männer immer als Täter, auch überkommene Geschlechterstereotype zur Sexualität leben in unserem Konzept von Vergewaltigung seltsam unbewältigt fort. „Der Vergewaltigungsdiskurs“, so Sanyal, „ist eine der letzten Bastionen und Brutzellen für Geschlechterzuschreibungen, die wir ansonsten kaum wagen würden zu denken, geschweige denn auszusprechen (…) Die Propaganda im Kalten Krieg der Geschlechter besagt, dass weibliche Sexualität ein bedrohtes Gebiet ist, das geschützt und verteidigt werden muss – anstatt erforscht und genossen. Etwas weiter unter dem Radar, aber nicht weniger folgenreich, sind die Botschaften über männliche Sexualität, die als zerstörerische Macht erscheint, die kontrolliert und beherrscht werden muss – anstatt erforscht und genossen.“
Nein heißt nein!
Präzise weist Sanyal nach, aus welchen Quellen sich dieses Bild speist, das bis heute den Diskurs von Feministinnen prägt, die das Thema vor über 40 Jahren auf die politische Agenda setzten: „Um die Rechte dieser Frauenkörper zu verteidigen, prägte die Frauenbewegung in den 1970er-Jahren die Parole ‘Nein heißt nein!’, die noch heute die Anti-Vergewaltigungs-Politik maßgeblich bestimmt. Diese Parole hat (…) eine Geschichte und eine Funktion, doch bricht sie nicht mit den Vorstellungen, auf denen der Vergewaltigungsdiskurs basiert: dass Männer sexuell aktiv bis überaktiv sind, während sich die Aktivität der Frauen auf Nein-Sagen beschränkt, dass männliche Sexualität monströs und gefährlich ist, gegenüber der ‘guten’ weiblichen Sexualität und so weiter.“ Gleichsam im Vorbeigehen macht Sanyal dabei deutlich, dass es Mitte der Siebzigerjahre keineswegs mehr der Überwindung besonderer Widerstände bedurfte, um das Thema Vergewaltigung aus der Tabuzone in den gesellschaftlichen Mainstream zu holen. 1975 landete Susann Brownmiller mit ihrem feministischen Manifest „Gegen unseren Willen“ einen nicht nur in der Washington Post gefeierten Bestseller, der bald schon in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Nur zwei Monate nach der Veröffentlichung ihres Buchs wurde sie vom Time Magazine zur „Frau des Jahres“ gekürt. Mit „Gegen unseren Willen“ wurde Vergewaltigung, so Sanyal, „nicht nur der Ursprungsmythos des Patriarchats, sondern auch der der zweiten Welle der amerikanischen Frauenbewegung“.
So wichtig die Entlarvung zahlreicher Vergewaltigungsmythen durch die Frauenbewegung war, die – wenn es sich nicht gerade um schwarze Täter und weiße Opfer handelte – immer wieder dazu dienten, die Glaubwürdigkeit betroffener Frauen zu erschüttern und Täter straffrei ausgehen zu lassen, sie ging, wie Sanyal zeigt, mit der Etablierung neuer Mythen einher, die nicht selten in einer schlichten Umkehr der alten bestanden: „Wo früher nur schöne, junge Frauen vergewaltigt wurden, galten nun alle Frauen als potenzielle Opfer, keine Frau trug Schuld an ihrer Vergewaltigung, Falschanzeigen waren unglaublich selten und so weiter. (…) Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Vergewaltigungsmythen in Wirklichkeit der Wahrheit entsprochen hätten, sondern dass der alte Diskurs den neuen noch immer bestimmte, wenn auch als Negativfolie.“
Zu den Glanzpunkten von Sanyals Buchs gehört neben der Analyse des „Big Dan´s Rape Case“, der Anfang der Achtziger das Vorbild für den Film „Angeklagt“ mit Jodie Foster in der Hauptrolle lieferte, die Geschichte von Samantha Geimer. Geimer war knapp 14 Jahre alt, als sie 1977 von Roman Polanski zu Probeaufnahmen in die Villa von Jack Nicholson eingeladen wurde. Er überredete sie zu Aktfotos, gab ihr Champagner und eine Drittelpille Methaquolon – ein Rauschmittel, das laut Wikipedia insbesondere in Verbindung mit Alkohol eine euphorisierende und aphrodisierende Wirkung entfaltet – und hatte danach gegen ihren Willen Sex mit ihr. Eine Vergewaltigung, keine Frage.
Was Geimers Geschichte so besonders macht ist, dass sie sich bis heute beharrlich weigert, unseren Erwartungen an ein Vergewaltigungsopfer zu genügen. Dabei leugnet Geimer keineswegs, was Polanski ihr angetan hat. 2003 schrieb sie in der Los Angeles Times, aus der Sanyal zitiert: „Wenn ich zurückschaue, steht es außer Frage, dass das, was er getan hat, furchtbar war. Aber es ist auch 25 Jahre her – nächsten Monat 26. Und ganz im Ernst, die Reaktionen der Presse und Öffentlichkeit waren so traumatisch, dass Polanskis Tat im Gegensatz dazu schlicht verblasst.“ Tatsächlich, so Sanyal, hätten ReporterInnen, PsychologInnen und andere selbsternannte ExpertInnen Geimers Fall seit 1977 „mit erbarmungsloser Regelmäßigkeit im Fernsehen, in den Zeitungen oder im Internet seziert“. Dabei sei nicht klar, wer schlimmer gewesen sei: „Die Anti-Geimer-Brigade, wie Gore Vidal: ‘(…) Soll ich mich etwa jedes Mal hinsetzen und anfangen zu weinen, wenn eine junge Nutte das Gefühl hat, ausgenutzt worden zu sein?’ oder die Opfer-Advokaten (…) wie die amerikanische Justizjournalistin Nancy Grace, die in ihrer Fernsehsendung mit der Gynäkologin und Talkshow-Persönlichkeit Dr. Evelyn Minaya feststellte: ‘Das war ein Kind, ein 13-jähriges Mädchen. Die Nachwirkungen sind lebenslang.’ Minaya bestätigte: ‘Lebenslang. Und nicht nur das. Die körperlichen Auswirkungen kommen noch dazu. Denken Sie daran, sie ist anal penetriert worden. Wussten Sie, dass sie dadurch ein höheres Risiko für Mastdarmkrebs hat?’“
Geimer hatte es satt, wie die Medien ihr und ihrer Familie immer wieder zusetzten. Doch ihrem Antrag, das Verfahren gegen Polanski nach 32 Jahren endlich einzustellen, um es ihr zu ermöglichen, mit der Vergangenheit abzuschließen, wurde nicht stattgegeben. Schließlich entschied sie sich 2013, ihre Geschichte zu erzählen: „Es ist falsch, von Menschen zu verlangen, sich als Opfer zu betrachten“, schrieb Samantha Geimer in ihrer Autobiografie, aus der Sanyal zitiert, „denn sowie sie es einmal getan haben, übertragen sie diese Opferhaltung auf ihr ganzes Leben.“
Lebenslang Opfer?
Tatsächlich ist die Erwartungshaltung, Vergewaltigungsopfer müssten zwangsläufig lebenslang unter den Folgen einer Vergewaltigung leiden, ein wichtiger Bestandteil dessen, was Vergewaltigung für uns zu keinem Verbrechen „wie jedes andere“ macht. Sanyal weist in diesem Zusammenhang auf eine merkwürdige Kontinuität zwischen der heute gängigen Vorstellung einer potenziell lebenslänglichen Traumatisierung und dem Konzept des weiblichen Ehrverlusts bei Vergewaltigungsopfern hin, das sich von der römischen Antike über viktorianische Glaubenssätze bis in die strafrechtlichen Bestimmungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstreckt: „Um einen Notzuchtprozess – so die rechtliche Bezeichnung, die in Deutschland bis 1973 für Vergewaltigung verwendet wurde; in Österreich bis 1989 und in der Schweiz bis 1992 – zu gewinnen, musste (…) vor Gericht nicht nur der Übergriff des übelthetters bewiesen, sondern vor allem der Beweis der weiblichen Ehre erbracht werden. Ein diffiziles Unterfangen, bei dem nicht nur der Körper und der Leumund der Klägerin aufs Genaueste beleuchtet wurden, sondern vor allem, ob sie den angemessenen Schmerz – ob ihrer verlorenen Ehre – an den Tag legte.“ Es sind Vorstellungen wie diese, die laut Sanyals Analyse plausibel machen, wieso JournalistInnen, um die Glaubwürdigkeit von Claudia D., der mutmaßlichen Falschbeschuldigerin des Wettermoderators Jörg Kachelmann, zu erhöhen, immer wieder deren besondere Fragilität und Verletzlichkeit betonten.
So doppelbödig die Kontinuität von Ehrverlust und Traumatisierung kulturgeschichtlich ist, so problematisch ist sie für die betroffenen Frauen. Sanyal zitiert in diesem Zusammenhang die amerikanische Publizistin und Feministin Vanessa Veselka, die 1999 in einem Essay für das bitch Magazine schrieb: „Unsere Kultur erklärt Mädchen von der Wiege an, dass Vergewaltigung das Schlimmste ist, was ihnen überhaupt passieren kann. (…) Wir sagen Opfern von sexuellem Missbrauch, dass es normal ist, sich beschmutzt zu fühlen. Wir tun all das, um Frauen und Mädchen darauf vorzubereiten, damit sie nicht alleine mit ihren Gefühlen sind, wenn es ihnen zustößt. Aber sorgen wir damit nicht gleichzeitig dafür, dass sie sich zerstört fühlen, beschmutzt und ihrer Unschuld beraubt? Inwieweit richten wir uns darauf ab zusammenzubrechen?“ Dabei geht es weder Veselka noch Sanyal darum, Frauen vorzuschreiben, wie sie nach einer Vergewaltigung zu sein haben – im Gegenteil: Was Sanyal vorschlägt, ist eine radikale Diversifizierung der Narrative. Das betrifft nicht nur unterschiedliche Formen der Verarbeitung von sexueller Gewalt, sondern auch die Bereitschaft, eine Vielzahl von Denkverboten außer Kraft zu setzen, etwa was die noch immer weitreichende Ignoranz gegenüber männlichen Opfern sexueller Gewalt oder die Existenz weiblicher Täterinnen – man denke an Lynndie England – betrifft.
Der Zeitpunkt dafür scheint günstig, denn seit „Köln“ wächst die Einsicht, dass Anti-Vergewaltigungs-Diskurse politisch instrumentalisiert werden – ein Verfahren, das schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA mit Erfolg praktiziert wurde, um rassistische Lynchmorde salonfähig zu machen. Daneben zitiert Sanyal in ihrem Buch zahlreiche Fälle, in denen in den Medien und in sozialen Netzwerken seit Sommer 2015 mit erfundenen Vergewaltigungsfällen gegen Flüchtlinge und Asylsuchende Stimmung gemacht wurde. Auch die sexuellen Übergriffe gegen Frauen auf der Kölner Domplatte an Silvester wurden auf diese Weise medial ausgeschlachtet und strafrechtlich instrumentalisiert: So verschärfte das Parlament im Januar 2016 das Ausweisungsrecht, sodass Flüchtlinge ohne Asylanspruch seitdem ausgewiesen werden können, wenn sie wegen eines Sexualdelikts verurteilt wurden; seit der Einführung des neuen Paragrafen 184j im Sommer 2016 gilt das bereits für diejenigen, die „sich an einer Personengruppe beteiligen“, aus der heraus andere entsprechende Straftaten begehen – eine hochproblematische und absurde Rechtskonstruktion, die auch die Initiatorinnen der #ausnahmslos-Kampagne gegen sexuelle Gewalt vehement ablehnen.
Leider ist Sanyals Buch da am schwächsten, wo es versucht, die aktuellen Ereignisse des letzten Sommers quasi en passant noch mitabzuhandeln. Da schleichen sich nicht nur Flüchtigkeitsfehler ein, wie auf S. 162, wenn aus Justizminister Heiko Maas plötzlich „Guido Maas“ wird. Da kippt der Ton des Buches auch unvermutet ins Autoritär-Parteiliche, wenn – ohne weitere Begründung – von einem „unfassbar unfairen Urteil“ gegen Gina-Lisa Lohfink die Rede ist und JournalistInnen dafür gerügt werden, dass sie sich das Video ansahen, um das es im Prozess ging: „Obwohl Lohfink erklärte, sie wolle nicht, dass sie jemand so sah“, kritisiert Sanyal, „ konnten auch viele Journalist*innen der Versuchung nicht widerstehen, sich selbst ein Bild zu machen.“ Als wäre nicht genau das ihre Aufgabe: sich selbst ein Bild zu machen. An diesen Stellen hätte man der Autorin, mehr noch als ein gutes Lektorat, mehr Zeit gewünscht – oder die Freiheit, es bei ihrer profunden Analyse zu belassen, ohne sie auf Teufel komm raus anschlussfähig für aktuelle Debatten zu machen.
Denn – und das ist das zweite Problem des Buches: Sanyal ist sich nur allzu bewusst, wie schmal der Grat ist, auf dem sie wandelt. „Ich hatte große Angst, man könnte mir vorwerfen, ich würde Vergewaltigung relativieren“, sagte sie kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit. Tatsächlich ist ihrem Buch diese Angst stellenweise deutlich anzumerken, insbesondere da, wo es um Deutschland geht. So kritisiert Sanyal zwar die Bunte-Chefredakteurin Patricia Riekel für ihre überhöhten Opferzahlen („2.500 %), doch dass auch hoch angesehene Organisationen wie Terre des Femmes mit exorbitant hohen und wenig plausiblen Dunkelziffern operieren („Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau vergewaltigt“), bleibt leider unerwähnt.
Dabei wirft Sanyals kluge und materialreiche Analyse natürlich Fragen auf, deren Tragweite für die politische Praxis immens ist. Drei Beispiele: Sanyal widmet dem Thema Falschbeschuldigungen in ihrem Buch viel Raum und verweist unter anderem auf den Fall des Lehrers Horst Arnold, der zu Unrecht von einer Kollegin der Vergewaltigung bezichtigt wurde, fünf Jahre lang unschuldig in Haft saß, nie wieder als Lehrer arbeiten konnte und wenige Monate nach dem gewonnenen Wiederaufnahmeverfahren starb. Doch was bedeutet es, wenn solche Falschbeschuldigungen nicht nur offensichtlich vorkommen – Sanyal zitiert eine Studie, die von zwei bis acht Prozent der polizeilich angezeigten Fälle ausgeht –, sondern schon allein der Vorwurf für die Betroffenen existenzvernichtend ist? Welche praktischen Folgen müsste das haben, insbesondere für die feministische Kernforderung, dass jeder Frau, die sich als Opfer sexueller Gewalt ausweist, rückhaltlos geglaubt werden muss? Zweites Beispiel: Anhand von Zahlen und Statistiken zeichnet Sanyal nach, was schon länger bekannt war: dass Männer nicht nur insgesamt sehr viel häufiger Opfer von Gewalt werden als Frauen, sondern dass sie – wenn auch seltener als Frauen – Opfer sexueller Gewalt, und zwar von Männern und Frauen werden. Bisherige Schätzungen gehen davon aus, dass rund zehn Prozent der Opfer sexueller Gewalt männlich sind. Eine Minderheit also, aber was bedeutet das für die Forderung nach Männerhäusern und speziellen Männerberatungsstellungen – ein Terrain, das bislang fast ausschließlich von Männerrechtlern beackert wird? Müsste der Einsatz dafür nicht künftig ein ganz selbstverständlicher Teil des Kampfes gegen jede Form sexueller Gewalt werden? Auch wenn das gegebenenfalls die Umschichtung von Mitteln bedeuten würde? Und drittens, allgemeiner gefragt: Wenn das Ziel tatsächlich darin besteht, die Zahl der Vergewaltigungen zu reduzieren und die patriarchalen Dichotomien zu durchkreuzen, wonach Männer Täter und Frauen Opfer sind, spricht dann nicht sehr viel mehr für weibliche Selbstverteidigungskurse als für immer neue #aufschrei- und #ichhabnichtangezeigt-Kampagnen? Damit rede ich nicht der Fiktion das Wort, dass sexuelle Gewalt von der Bildfläche verschwinden würde, wenn man nur aufhörte, sie zu thematisieren. Aber müsste das Bewusstsein für weibliche Wehrhaftigkeit nicht wenigstens im selben Maße geschärft werden wie das für weibliche Opfer? Und sollten wir vor dem Hintergrund, dass – wie Sanyal deutlich macht – glücklicherweise bei Weitem nicht jeder Vergewaltigungsversuch erfolgreich ist, nicht sehr viel mehr Energie in Prävention stecken und alles dafür tun, dass möglichst viele Jungen und Mädchen, Frauen und Männer und alle, die sich anders identifizieren, in den Stand gesetzt werden, „nein“ zu sagen und dieses Nein auch durchzusetzen, anstatt mantramäßig zu wiederholen, dass die Opfer keine Schuld trifft (was richtig ist) und dass jede Form der Umerziehung bei den Männern ansetzen muss, weil schließlich jeder Mann ein potenzieller Vergewaltiger ist (was sexistischer Blödsinn ist)? Kurz gefragt: Können wir aufhören, uns vor denjenigen zu fürchten, die uns unterstellen könnten, wir würden den Opfern damit eine Mitschuld zuweisen?
Es geht um die Wiederaneignung von neuen Denk- und Handlungsoptionen, die Sanyal einleitend als Ziel ausgibt. Ihr Buch liefert dazu unendlich viele spannende Einsichten – und ist deshalb unbedingt lesenswert. Doch ohne Streit, auch unter FeministInnen, wird eine neue Praxis nicht zu haben sein.
Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens, Editions Nautilus, 240 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-96054-023-6