Es kommt inzwischen so häufig vor, dass man es kaum noch bemerkt: das Um-zu-Argument. Argumente, die mit der eigenen Überzeugung nicht viel zu tun haben, anderen aber eine politische Forderung schmackhaft machen sollen. Doch macht man Menschen so Lust auf Politik? Auf feministische gar?
Gut gefordert, schlecht begründet
Natürlich ist das kein Problem von Feministinnen alleine. Um-zu-Argumente tauchen heute überall auf, wo es um Dinge geht, die dem gesellschaftlichen Mainstream entbehrlich erscheinen. Jugendclubs, zum Beispiel, werden heute nicht mehr allgemein für förderungswürdig gehalten – die Überzeugung, dass Kinder und Jugendliche Räume brauchen, in denen sie sich ausprobieren können, wenn der öffentliche Raum schon nicht mehr dafür zur Verfügung steht, ist weitgehend aus der Mode. Wer damit argumentiert, setzt sich dem Vorwurf aus, ein_e Sozialstaatsromantiker_in zu sein, nichts vom Sparen wissen zu wollen, die Staatsverschuldung leichtfertig ins Uferlose zu treiben. Deshalb ist ein gängiges Argument für Jugendclubs, dass sie billiger als Gefängnisse sind: Lasst uns lieber heute ein paar Euro mehr in Sozialarbeit investieren, als hinterher teure Gefängnisse bauen zu müssen! Ähnlich beim Thema Bildung: Dass Menschen lernen wollen, dass es zu ihrem Menschsein dazugehört, neugierig auf die Welt zu sein und ihre Fähigkeiten zu entwickeln, ist kein Argument, mit dem Investitionen in den Bildungsbereich heute üblicherweise begründet werden. Stattdessen geht es um die demografische Entwicklung, den drohenden Facharbeiter_innenmangel und die fehlende Integrationsbereitschaft im Lande. Wer weder die deutsche Industrie um ihren Spitzenplatz bringen noch mangelndes Pflegepersonal im Alter oder ausländerfeindliche Gewalttaten riskieren will – und wer will das schon? –, muss, so die gängige Begründung, in diesen Bereich investieren. Dasselbe gilt, sobald es um Frauen in Führungspositionen oder überhaupt um die Erwerbstätigkeit von Frauen geht. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte – dass erwachsene Menschen selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen und Frauen auf derselben Grundlage wie Männer Karriere machen – wird nun mit dem Nutzen für andere begründet: Die Unternehmen profitieren von berufstätigen Frauen, damit geht es der Wirtschaft und folglich der Gesellschaft als Ganzes besser. Auch viele Feministinnen argumentieren so.
Wahrscheinlich ist vieles davon in der Sache gar nicht falsch. Trotzdem ist mir bei solchen Argumenten seit einiger Zeit immer weniger wohl. Zum einen: Was, wenn es anders wäre? Wenn die Gesellschaft mit ein bisschen Frauendiskriminierung im Grunde ökonomisch besser führe – wäre die dann ok? Summa summarum könnte es sich für die Gesellschaft ja durchaus lohnen, dass Frauen unentgeltlich Kinder großziehen, Alte pflegen, zu Niedriglöhnen arbeiten – würden wir dann alles beim Alten belassen wollen? Und wenn das keine Option ist, warum dann überhaupt mit dem Nutzen und dem ökonomischen Mehrwert argumentieren? Trauen wir unseren eigenen Idealen nur noch so wenig zu?
Denn, zweitens: Wer so argumentiert, plädiert nicht mehr offensiv für etwas, das ihm oder ihr wichtig ist, sondern nimmt die Einwände der Gegenseite schon vorweg. Euch sind Gleichstellungsprogramme, Bildungs- und Sozialarbeit zu teuer? Wir zeigen euch, dass ihr damit sogar noch Geld spart! Mal ganz abgesehen davon, dass diese Prognosen oft auf wackligen Füßen stehen: Das ist der Effizienzdiskurs von Unternehmensberatungen. Wir kosten euch mit unseren Maßnahmen viel Geld? Stimmt, aber wir zeigen euch, wo ihr so viel sparen könnt, dass es sich am Ende trotzdem für euch gelohnt haben wird!
Auch mit der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen lässt sich Geld sparen!
Wie weit dieser Effizienzdiskurs mittlerweile in den politischen Diskurs eingesickert ist, wurde mir klar, als ich neulich das neue FrauenRat-Heft zum Thema Gewalt las. Es geht dort um Gewalt gegen Frauen, deren unterschiedliche Formen und Verbreitung. Ich schätze diese Schwerpunkthefte sehr, weil sie meist Grundlegendes zu einem feministischen Thema zusammentragen und genug Raum bieten, um es in verschiedenen Facetten auszuleuchten. Auch deshalb lektoriere ich das Heft und veröffentliche dort gelegentlich Beiträge.
Umso überraschter war ich nun zu lesen, dass selbst in diesem Kontext und bei diesem Thema Kosten ein zentrales Argument sind. Anders lässt sich meines Erachtens jedenfalls nicht erklären, warum sowohl die Vereinten Nationen als auch der Europarat dazu offenbar umfangreiches Zahlenmaterial vorlegen, auf das im Heft verwiesen wird. In ihrem Beitrag zählt Brigitte Triems, Vorstandsmitglied des Deutschen Frauenrates und ehemalige Präsidentin der Europäischen Frauenlobby, zunächst die Fakten auf: „Jede vierte Frau in Europa erlebt im Erwachsenenalter körperliche Gewalt, jede zehnte leidet unter sexueller Gewalt. Täglich sterben sieben Frauen an der Gewalt, die Partner oder Ehemänner an ihnen verübt haben, so Schätzungen auf der Grundlage verschiedener europäischer Studien.“ Gewalt ist damit ein Problem, das allein in der EU über sechzig Millionen Frauen direkt, an Leib und Leben, betrifft; Triems´ Forderungen nach europäischen Mindeststandards für den Schutz von Frauen und für eine umfassende Strategie der EU zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen sind also nur allzu berechtigt.
Das Sonderbare ist jedoch, dass sie diese Forderungen nicht unmittelbar aus den genannten Zahlen ableitet. Stattdessen fährt sie zunächst fort: „Und diese Gewalt hat nicht nur unmittelbare und langfristige Auswirkungen auf die gesundheitliche, psychologische, wirtschaftliche und soziale Situation der betroffenen Frauen und ihrer Kinder, sondern sie belastet die gesamte Gesellschaft erheblich: Laut einer Studie des Europarates belaufen sich die jährlichen Kosten von Gewalt in den Mitgliedsstaaten auf 34 Billionen Euro und die von häuslicher Gewalt auf etwa 16 Billionen Euro; das bedeutet eine Million Euro pro halbe Stunde!“
Ich bin überzeugt, dass Brigitte Triems das nicht denkt. Trotzdem legt der Aufbau ihrer Argumentation nahe, dass erst die Sparkarte sticht. Dass wir Gewalt gegen Frauen also vor allem deshalb bekämpfen müssen, weil sie einen immensen Kostenfaktor darstellt. Wer nun argumentiert, das Kostenargument sei ja quasi nur ein „zusätzliches“ Argument, um auch die Uneinsichtigen zu überzeugen, verkennt, wie problematisch es immer dann ist, wenn es um Grundrechte geht. Dass Gewalt gegen Frauen eine Menschenrechtsverletzung ist, wird ja auch im Heft ein ums andere Mal betont. Die Abschlusserklärung der zweiten UN-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien gehört deshalb zu den wichtigsten Errungenschaften der internationalen Frauenbewegung. Seitdem ist Gewalt nicht mehr etwas, das der einzelnen Frau irgendwie privat und bedauerlicherweise zustößt, sondern ein Verstoß gegen ihre Menschenrechte. Menschenrechte sind aber gerade dadurch definiert, dass sie unveräußerlich sind und dass es Pflicht des Staates ist, diese Rechte vor Übergriffen durch Dritte zu schützen. Alle Staaten, die die entsprechenden Konventionen ratifiziert haben, sind also verpflichtet, Frauen vor Gewalt zu schützen – unabhängig davon, ob sie damit Geld sparen oder nicht. Wer hier mit Einsparungen argumentiert, stellt die Unveräußerlichkeit dieses Rechts infrage. Und die Unteilbarkeit gleich mit: Wenn nämlich Kosten ein Argument sind, dann legt dies nahe, erst einmal die Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen, die besonders teuer sind. Klingt zynisch? Ist es.
Wer Politik machen will, braucht Visionen vom guten Leben
Und noch etwas spricht gegen das Sparargument: Sein Mobilisierungsfaktor ist gleich null. Der Unterschied wurde mir klar, als ich einen anderen Beitrag im selben Heft las. Die DF-Geschäftsführerin Henny Engels referiert dort die Gewaltdefinition des norwegischen Friedensforschers Johan Galtung (die nicht umsonst aus den späten 60er-Jahren stammt, als Politik einen anderen Stellenwert hatte). Danach ist Gewalt „die Ursache für den Unterschied zwischen dem Potenziellen und dem Aktuellen“, sie liegt also laut Galtung immer dann vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung“. Strukturelle Gewalt, so Engels, äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und Lebenschancen: „Wo Ressourcen, Einkommen, Bildungschancen und die Entscheidungsgewalt über die Ressourcen ungleich verteilt sind, werden Menschen in ihrem Leben behindert, herrscht soziale Ungerechtigkeit oder genauer – Gewalt.“
Was solche Sätze, glaube ich, von Um-zu-Argumenten unterscheidet, sind die politische Haltung und die Leidenschaft, die darin zum Ausdruck kommen. Da geht es nicht ums Eindämmen, um Schadensbegrenzung, da werden keine mutlosen Rückzugsgefechte geführt und nicht ängstlich Einwände entkräftet, bevor sie gefallen sind, sondern Utopien formuliert, Visionen vom besseren Leben – etwas, wofür man sofort auf die Straße gehen möchte. Gewaltfreiheit ist ein solches Ideal, die Überzeugung, dass alle dasselbe Recht auf Verwirklichung haben, auf Bildung und Kreativität, auf Schutz vor Armut, auf Unterstützung, wenn sie sie benötigen. Vielleicht lässt es sich so sagen: Was politische Argumente von Um-zu-Sätzen unterscheidet, ist, dass darin eine Ahnung vom besseren Leben aufscheint. Ein Wissen darum, dass es Ziele gibt, die aus sich selbst heraus bedeutsam sind und die keinen Zwecken untergeordnet werden dürfen. Nicht mal für die Dauer eines einzigen Arguments. Und für die es sich genau deshalb zu kämpfen lohnt.
Zum Lesen und Bestellen: „Mit aller Kraft entgegentreten. Gewalt gegen Frauen.“ Hrsg. vom Deutschen Frauenrat, Heft 1-2013