Die Künstlerinnen der Endmoräne haben Grenzen überschritten und in Frankfurt/Oder ganz besondere Räume geschaffen – für einen kurzen Augenblick nur
Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
Leere Stühle, zersplitterte Gläser, ein kaputter Kronleuchter – es sind die fragilen und bereits zerbrochenen Gegenstände, die einem in der neuen Ausstellung des Künstlerinnenkollektivs Endmoräne sofort ins Auge fallen. Und irgendwie auch ein wenig schmerzen. Dort, wo die Grenze nach Polen geradezu vor der Tür liegt, die Oder bei Frankfurt Deutschland und Polen trennt. Fast alles scheint dem Zusammenbruch in dieser Ausstellung nahe. Die Werke, aber auch das Gebäude, in dem sie dieses Mal entstanden sind. Unwillkürlich hat man die Bilder der tausenden Flüchtlinge vor Augen, die oft schon vor Monaten ihre zerstörten Häuser verlassen haben, um sich jetzt einen Platz in einem Zug über die Grenze nach Deutschland zu ergattern.
Ka Bomhardt, „Hier wie dort“. Hier sitzt niemand mehr Foto: Petra Welzel
Fast über jedes Kunstwerk hinweg blickt man nach draußen durch kaputte Kassettenfenster, die die Form hoher Fenster mit Rundbögen eines Kirchenchors haben. Der Wind, der durch die kaputten Scheiben weht, bewegt die hängenden und leichten Objekte. Hier eine Lampe und ein Bett, dort ein paar Schlagbäume. Über drei Etagen bespielen die Endmoränen-Künstlerinnen und acht geladene polnische Künstlerinnen die leeren Hallen einer ehemaligen Stärkefabrik. „Thea, wir fahren nach Lodz“ heißt ihr diesjähriges Projekt nicht nur wegen der Nähe zu Polen, sondern weil es dort schon im Frühjahr begann.
Der Blick nach draußen Foto: Petra Welzel
Alle 25 Künstlerinnen haben sich auf die Reise begeben, sich als Grenzgängerinnen erwiesen. Um in den sogenannten Koehlmann-Höfen – benannt nach dem Gründer der Fabrik im Jahr 1860 – zusammenzutragen, was oftmals getrennt wurde. Kaum ein Land in Europa wurde in den vergangenen 250 Jahren so oft in seinen Grenzen verändert wie Polen. Immer wieder mussten Menschen, Alte und Junge, ihre Häuser verlassen. Geblieben sind Splitter, Erinnerungsstücke, die man in der Ausstellung für sich – wenn man so will – symbolisch aufgreifen und wieder zusammenfügen kann.
Ein Zimmer für den Vater
Am konkretesten mag hier die Arbeit von Monika Czarska sein, die in einer Fensternische einen weißen Raum mit weißem Bett, weißer Lampe und weißem Boden in Erinnerung an ihren Vater geschaffen hat. Er war gesundheitlich schon sehr angeschlagen, als er wie seine Schwester 1991 an der zum Westen geöffneten Grenze zu Weihnachten ein Extrageld verdienen wollte. Tagelang wartete Czarska, damals 13 Jahre alt, mit ihrem jüngeren Bruder und der Mutter auf den Vater. Erst eine Woche später als geplant, kurz vor Mitternacht zum neuen Jahr, kam er noch kränker zurück. Und das Einzige, was die Tochter seither wollte, war, ihm ein helles, freundliches und warmes Zimmer zu schaffen. Erst jetzt hat sie es vollbracht, nur: Ihr Vater kann es nicht mehr betreten. Er starb 1993.
Monika Czarska, „Papierzimmer“ Foto: Petra Welzel
Zum Mittelpunkt der Erde
Selten haben die Arbeiten der Endmoränen-Künstlerinnen in den vergangenen zwei Jahrzehnten so miteinander harmoniert oder sich ergänzt wie in diesem Jahr in den Koehlmann-Höfen. Wenn es so etwas wie den schönen Schmerz gibt, dann kann man ihn dort spüren. All die Splitter, verlassenen Stühle und Räume haben nichts mit der Suche nach der verlorenen Zeit zu tun, aber viel mit der Suche nach dem verlorenen Glück. „Das Glück ist nicht immer lustig“ heißt es in der Installation von Agnieszka Chojnacka. In ihrem Scherbenmeer bringt nicht eine einzige Scherbe Glück. Ohne sie zu berühren, versetzen sie einem dennoch kleine Schnitte trotz ihrer schimmernden Pracht. Und der Zahn der Gegenwart nagt draußen an den Grenzen zudem schon wieder unmittelbar am Glück vieler.
Da ist es geradezu erleichternd, dass man mit der Arbeit von Susanne Ahner oben im Dachgeschoss eine Reise zum Mittelpunkt der Erde antreten kann. Es erwacht die Erinnerung an die eigene Kindheit, die Geschichten von Jules Verne und die immerwährende Suche nach dem Sinn des Seins. Und auch das „Alphabet“ von Jolanta Rudzka Habisiak in Form eines riesigen Wandmandalas zieht einen dort in seine Mitte. Je näher man herantritt, erkennt man, dass es unter anderem aus einer zerschnittenen Weltkarte entstanden ist. Grenzen? Die sind künstlich. Und mit einem Schnitt lassen sie sich manchmal überwinden.
Agnieszka Chojnacka, ohne Titel. Bringen Scherben Glück? Foto: Petra Welzel
Die Ausstellung ist noch am 19./20. September von 13-18 Uhr zu besichtigen. Es gibt Führungen, Aktionen und Performances. In den Koehlmann-Höfen, Goepelstr. 73-75, Frankfurt/Oder