Weibblick - Magazin aus Frauensicht

Magazin aus Frauensicht

Saadiye und Durrah: Die Glücksbringerin und die große Perle

Laut Auskunft auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag sind 2015 ca. 600.000 Menschen nach Deutschland geflohen. Durrah und Saadiye sind zwei davon. Unsere Gastautorin Petra Tesch erzählt ihre Geschichte.

Lehrstunde

Lehrstunde. Diese Szene hat nichts mit der Realtiät in der Geschichte zu tun. Hier sind Schulen mit Schülerinnen und Schülern zusammengekommen, um bestmögliche Konzepte für die Integration von Lernenden zu diskutieren und vorzustellen. Foto: A.M.

Als Durrah* mir vorlas, dachte ich: „Boah! Warum ist die hier? Die kann das doch schon!“ Es war sowohl ihr als auch mein erster Tag im Deutschkurs für geflüchtete Frauen in einem Heim in Lichtenberg. Für sie war es einer der ersten Tage überhaupt in Deutschland. Am Ende einer langen Reise.

Saadiye (die Glücksbringerin)

Sie hatten Glück gehabt, arm waren sie nicht, und so mussten sie nicht über das Meer. Schlepper brachten Durrah, Saadiye, weitere vier Geschwister und deren Eltern auf dem Landweg von Syrien nach Sofia. Dort saß die Familie erst einmal fest, bald schon drohte das Geld für das Insulin auszugehen, das sie brauchten, um die zuckerkranke kleine Saadiye* durchzubringen. In irgendeinem Zeltlager für Geflüchtete muss ein orthodoxer Priester die Kinder gesegnet haben. Eine der ersten Erinnerungen, die Saadiye von der Flucht hat, ist, dass sich ein großer grauhaariger Mann im schwarzen Mantel über sie beugt und das Kreuz schlägt. Von diesem „schwarzen Mann“ träumt sie am Anfang häufig und es sind Albträume. Als sie von den Bomben in ihrer Heimatstadt spricht, mit dem Finger nach oben zeigt und „bum. bum. bum.“ ruft, verstehe ich nicht, warum sie dabei nicht aufhört zu lachen. Damals ist sie sehr dünn und zu klein für ihr Alter. Kurze Zeit später, etwa drei Wochen nach ihrer Ankunft, fülle ich mit ihr gemeinsam den engbedruckten mehrseitigen Fragebogen einer psychologischen Beratungsstelle für Traumageschädigte aus, den ihr wohl die Sozialarbeiterin im Heim gegeben hat: „Bezeichneten mich Personen aus meiner Familie als ‚dumm‘, ‚faul‘ oder ‚hässlich?’“ ist eine der Fragen, die ich daraus erinnere; „Ich kann mich nicht konzentrieren“, eine andere. Die meisten Fragen sind negativ formuliert. Dahinter jeweils eine 5-stellige Skala, die von „überhaupt nicht“ bis „sehr häufig“ reicht. Die Eltern können ihr beim Ausfüllen nicht helfen, weil sie kein Deutsch können. Ich kann Deutsch, verstehe aber den Fragebogen nicht. Vor allem kommt er mir falsch vor für eine 12-Jährige mit Kriegs- und Fluchterfahrung. Nachdem Saadiye ihn beim Psychologen abgegeben hat, geht sie nie wieder hin.

Sehr bald schon hat sie ausschließlich deutsche Freundinnen, die sie zufällig auf der Straße kennengelernt hat. Sie spricht und lacht einfach alle an. Wenn sie groß ist, will sie zur Polizei. Sie wird eine gute Polizistin werden, wenn wir sie lassen. Sie hat in Deutschland eine Insulinpumpe bekommen und ist inzwischen gewachsen und kräftiger geworden. Politik ist ihr egal, seit sie keine Angst mehr vor Bomben haben muss. Was ihr wichtig ist, sind Regeln und Ordnung. Durch ihre Krankheit ist sie an Disziplin gewöhnt Aber ihre Zensuren sind nicht die besten. Statt zu lernen, geht sie lieber zum Schwimmkurs oder Picknick mit ihren Freundinnen.

Durrah (die große Perle)

Angst vor Wasser hat auch Durrah, die große Schwester, nicht. Das Loch im Ohr, einer der Gründe, warum sie noch nie im Leben Baden war, hat ein Spezialist im Krankenhaus am Friedrichshain zugenäht. Das wäre zu Hause nur in Damaskus möglich gewesen. Eine zu lange Reise aus einer Stadt an der türkisch-syrischen Grenze für nur ein Loch im Ohr.

Im Krankenzimmer lag noch eine ältere deutsche Patientin, deren Tochter nicht täglich zu Besuch kam. Blieb sie aus, reichte Durrahs Vater der Frau im Bett nebenan mit charmantem Lächeln Pralinen, die sie nicht ablehnte, wegen seines Charmes und weil ihr die Worte dazu fehlten. Der Dauerbesuch für Durrah muss ihr sehr fremd vorgekommen sein, nicht nur wegen der Sprache, die sie nicht verstand. Es waren immer mehrere Leute da, Freunde und Familie, und es wurde geschwatzt und gelacht, bis die OP-Schmerzen nicht mehr zu spüren waren.

Das Ohr ist geheilt und wenn Durrah jetzt Zeit hätte, könnte sie Schwimmen lernen. Ihr Badeanzug wäre rot – weiß – grün. Den hätte sie in Syrien nie tragen dürfen. Weder einen Badeanzug, noch die Farben Kurdistans. Als sie ungefähr in der fünften Klasse war, sprach sie in der Schule einmal kurdisch. Am Abend wurde ihr Vater zur Polizei bestellt und musste sich dafür rechtfertigen, weshalb seine Kinder nicht – wie vorgeschrieben – arabisch sprachen.

Zum Schwimmenlernen hat Durrah jedoch keine Zeit. Heute hat sie ihre Deutschprüfung für den Mittleren Schulabschluss hinter sich gebracht. Wenn alles klappt, beginnt sie im September die Ausbildung zur Pharmazeutisch-Technischen-Angestellten beim Lette-Verein. Davor steht allerdings der Aufnahmetest mit Fragen wie: „Die molare Masse bezeichnet a) eine Konzentration b) eine Stoffmenge c) eine Teilchenanzahl d) ein Gewicht e) Keine der Angaben a – d trifft zu“.

Chemie hatte Durrah nie. Dennoch weiß sie genau, dass sie in einer Apotheke arbeiten will. Später vielleicht noch Pharmazie studieren. Ich würde schon sehen. Bisher hätten immer alle gestaunt, dass sie schaffte, was sie sich vorgenommen hat.

Meine Zweifel sind zunächst nicht grundlos: Noch im November empfahl ihre Lehrerin im Elterngespräch, Durrah möge die 10. Klasse wiederholen, sonst würde sie womöglich auch den Erweiterten Hauptschulabschluss nicht schaffen. Sie sei zwar intelligent, aber die Zeit – erst seit Mai war sie in einer deutschen Schule – sei einfach zu kurz. Ich fragte mich damals, wann sie eigentlich schlief. Tag und Nacht schien sie zu lernen. Dazwischen erledigte sie Wege mit den Eltern und dolmetschte, auch für den großen Bruder, der nicht mehr schulpflichtig und deshalb zunächst beschäftigungslos war: Wohnungsamt, Sozialamt, Jobcenter. Ich machte mir Sorgen, dass das nicht durchzuhalten sei. Sie hielt durch. Und schon im Halbjahreszeugnis stand die Empfehlung für den Mittleren Schulabschluss.

Inzwischen haben wir „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf gelesen und daran die Interpretation von Romanen geübt. Am Beispiel von „Schwarz zu blau“ kann sie in „Großstadtlyrik“ Kreuzreim und Paarreim bestimmen und weiß, was sprachliche Ellipsen und Methaphern sind. Sie kann Erörterungen schreiben und sich mit Begriffen wie „Ehre“, „Gewissen“ und „Schuld“ auseinandersetzen. Nein, um die Deutschprüfung heute habe ich mir keine Sorgen gemacht. Vor dem Abitur in Syrien hatte Durrah sich drei Wochen lang bei ihrer unverheirateten Tante einquartiert und ganze Bücher auswendig gelernt. Schule zu Hause war Auswendig-Lernen. So hatten es schon ihre Lehrer gemacht und so gaben sie es an die Kinder weiter. Dazu ein Englischunterricht ohne Englisch-Sprechen, weshalb sich „My name is … I come from …“ bei Durrah krächzend anhört und ich zweimal hinhören muss, bevor ich realisiere, dass das Englisch ist.

Keine Ahnung – wenn es sich nicht um Deutsch oder Englisch handelt, sondern um das eigene Land

Was mir mehr Sorgen macht als Deutsch und Englisch ist aber, dass sie fast nichts weiß über ihr Land und nichts über die Welt. Entfernungen werden in Busstunden gemessen, die es zum Arzt braucht. Wie heißt das Meer, an dem Syrien liegt? Achselzucken. Wie der höchste Berg? „Keine Ahnung“ gehört mittlerweile zu ihren Lieblingsantworten. Erst letzte Woche haben wir gemeinsam in Googlemaps ihre Heimatstadt nahe der türkischen Grenze gefunden, sind virtuell durch die Straßen gelaufen und sie hat mir gezeigt, bei welchem Imbiss sie am liebsten Schawarma gegessen hat. Die Zerstörung der Stadt hat Googlemaps bis heute nicht erreicht; Da ist alles noch, wie sie es verlassen haben: Der Garten ihres Opas mit Bäumen und viel Gemüse, die Bank, bei der ihr Vater irgendwas mit Finanzen machte, weil er als Kurde in seinem Beruf als Anwalt nicht arbeiten durfte, der Park, in dem sie sich mit ihren Schulfreundinnen getroffen hat. Wie soll Eine, die noch nie Urlaub gemacht hat oder geflogen ist und deren Reiseerfahrungen nur unfreiwillig von Syrien über die Türkei, Bulgarien, Serbien und wahrscheinlich Ungarn, Österreich bis nach Deutschland reichen, wissen, was hier Aufgewachsene ganz nebenbei eingesogen haben? In der Aufnahmeprüfung für die Ausbildung wird auch nach dem größten See Deutschlands, dem Staatsoberhaupt, Maßeinheiten und Prozentrechnung gefragt werden. Durrah ist mittlerweile ganz gut in Trigonometrie und bestimmt quadratische Funktionen, der gesamte Stoff aus Klasse 7 bis 9 fehlt jedoch. Nicht alle Lücken werden sich schließen lassen. Aber wenn wir ihr Zeit geben, werde ich später vielleicht meine Medikamente in ihrer Apotheke kaufen.

Übrigens: Als wir uns im Heim zum ersten Mal begegnet sind, konnte Durrah kein Wort Deutsch. Vielen anderen Frauen aus dem arabischen Raum gegenüber ist sie jedoch im Vorteil: Als Kurdin kann sie lateinische Buchstaben sprechen und lesen. Nicht wissend, was von mir als Lehrerin erwartet würde, hatte ich ein mehrsprachiges Bildwörterbuch mitgebracht: „Der kleine Bär steht auf“, „Der kleine Bär wäscht sich Gesicht und Hände“, „Der kleine Bär putzt sich die Zähne“, steht da unter den Illustrationen. Durrah war damals 17 und las flüssig und widerspruchslos. Heute ist sie achtzehneinhalb. Wir treffen uns einmal wöchentlich und sie hat es eilig, ihre Ausbildung abzuschließen und Geld für die Familie und für sich zu verdienen.

Irgendwann, vielleicht mit 25, will sie sich auch einmal verlieben. Sie weiß genau, was sie will und wann sie es will. Anders als viele deutsche Jugendliche. Es wird hoffentlich ein ganz normales Leben werden. Am Ziel einer langen Reise.

* Namen geändert

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