Weibblick - Magazin aus Frauensicht

Magazin aus Frauensicht

Auch meine Tochter ist ausgezogen

Es ist nichts, was die Welt bewegt. Aber es ist neu, wenn die Tochter aus dem Haus in ihr eigenes Leben geht und die Frau Mama sich im leeren Zimmer dreht.

Es ist still. Keine Musik dröhnt aus der Tür. Das Bad ist nicht verschlossen. Es rauscht kein Wasser aus der Dusche. Die Fenster sind nicht vom Wasserdampf beschlagen. Die Anzahl der Schuhe in der Garderobe hat sich von ungezählt auf drei Paar reduziert. Der Kühlschrank ist leer und es ist nichts gekocht. Dafür hallt mein Schritt in der Wohnung wider. Ich wusste gar nicht, dass die Abwesenheit meiner Tochter eine solche Lautstärke hinterlässt. Sie ist ausgezogen.

Tochter springt in die Höhe und zeigt ihren Aufbruch

Sprung in das eigene Leben, Foto: Annette

Nun ist es wirklich DER Auszug – alles geht mit

Und dieses Mal dürfte es für immer sein. Nicht, dass sie schon hin und wieder das Weite gesucht hätte. So hat sie sich in der 10. Klasse innerhalb von vier Wochen für ein Jahr in Cambridge entschieden, ohne auf meine vorab offerierten Angebote in alle möglichen Winkel der Erde mit nur einem Wort eingegangen zu sein. Auch hat sie kurzentschlossen zwei Wochen vor Studienantritt  ihren Rucksack nach Australien gepackt und mir dann ein Jahr per Skype zugewunken. Aber jedes Mal blieb ein Teil von ihr zurück – ihre Klamotten, ihre Bettdecke, die Kuscheltiere oder die Bratpfanne. Dieses Mal ist es anders. Sie hat alles mitgenommen. Und alles heißt die Möbel eines kompletten Zimmers (die ich erst vor drei Monaten angeschafft hatte, weil ich dachte, dass sie doch in Berlin studieren würde), Kochbücher, Töpfe, Geschirr, Zelt, Schlafsack, Bücher, Schuhe, Schraubenzieher, Betten, Besen, Handtücher, Rasierklingen und auch die bunte Pappkiste, die 20 Jahre unbeachtet unter dem Bett stand. In der Kiste findet sie das, was ich für sie gesammelt habe – Zeitungen, die am Tag ihrer Geburt erschienen sind, einen kleinen Beutel mit Mark-und Pfennig-Münzen aus der DDR, Bildergeschichten, Filme, Musik und Auskünfte über ihren Vater, der ihr unter anderem Gedichte geschrieben hat, für die sie bislang zu jung war.

Der Tag des Auszugs kam natürlich nicht unerwartet. Immer wieder hatte ich diesen herbeigeredet. Er tauchte spätestens ab dem Augenblick in meinen Nebensätzen auf, als ihr Freund in unser kleines Zweierleben einzog. Diese Menage á trois in einer Zweiraumwohnung hat sich immerhin über drei Jahre hingezogen mit recht bekannten Begleiterscheinungen: Schuhe im Flur, Unterhosen in der Waschmaschine, Kochen und Essen ab elf Uhr am Abend, ein ewig besetztes Badezimmer, Schlafen bis in die Mittagsstunden, nächtliche Heimkehr am Morgen, Freundinnen und Freunde am Telefon, die ich immer laut rufend weiterreichte oder freundlich abhängte, weil es zu früh am Tag war. Ich selbst habe in dieser Zeit schon unten an der Haustür auf der Straße geläutet, um mich anzukündigen.

Ein leeres Zimmer für mich

Nun drehe ich mich in dem plötzlich leeren Zimmer um die eigene Achse. Es ist groß. Es ist das Balkonzimmer. Noch nie habe ich hier drin gewohnt. Weiß erst einmal gar nicht, was ich damit anfangen soll. Merke, dass ich mich in meinen bisherigen wenigen Quadratmetern sehr gut arrangieren konnte, gar nicht mehr Platz benötige. Freut sich das Klima, denke ich, dass einem ja inzwischen täglich sagt, dass man sich zu bescheiden hat. Fahre ja auch Fahrrad. Nach dem Trabi kam nichts mehr, war mir alles zu aufwändig. Musste man sich ja darum kümmern. Besitz verpflichtet – eines der geflügelten Wort aus Elternmund. Stimmt. Der Kühlschrank ist nun auch zu groß, wird eh nur einmal in der Woche mit dem nötigsten gefüllt. Auch glaube ich nicht, dass mich ab jetzt Kochrezepte mehr als davor reizen werden. Wir hatten ja eine Arbeitsteilung: einkaufen, kochen und reinigen war auch Tochterarbeit. Ich saß auf der Arbeit, kümmerte mich dort um den Haushalt. Lange, oft zu lange. Aber zum reden blieb immer Zeit und unsere kleinen und großen Ausfahrten waren legendär. Wie gut, dass der eiserne Vorhang gefallen war. Viele bislang unbekannte Bilder rückten ins Augenmaß und der Osten wurde wieder interessanter.

Und gelernt habe ich einiges von ihr. „Kleiderkreiseln“ zum Beispiel. Sie muss eine der ersten gewesen sein, die in diesem Tauschring mitgemacht hat. Immer wenn der Postmann zweimal bei uns klingelte, war es nicht für mich. Und der klingelte oft. Das hatte den Vorteil, dass der Schrank nicht aus den Nähten platzte und ihr zugeteiltes Taschengeld immer ausreichte. Oder das Reisen durch die gesamte Republik mit der Mitfahrzentrale, immer das App für die Leihräder von der Bahn dabei. Überhaupt schien organisatorisch und finanziell nie etwas ein Problem zu sein. Auch die Kassenzettel wurden in einem elektronischen Haushaltsbuch verwaltet und mir als Beweis für das  Schmelzen des Salärs offeriert.
Die Zeitung gibt’s bei ihr auch nur noch elektronisch. Eine genügt natürlich nicht, weil auch die Schlagzeilen des Guardian oder der Times mit beobachtet werden wollen. Inzwischen heißt es  im Feuilleton „Nutzen statt besitzen“ und wird zum neuen Lebensstil ausgerufen. Auch gut. Für meine Tochter und ihre Freunde war oder ist es einfach effizient, praktisch und vor allen Dingen dem Geldbeutel entsprechend.

Angekommen zum Leben und Studieren in einer anderen Stadt

Jetzt führt meine Tochter ihren ersten Haushalt in einer anderen Stadt. Komplett. So einen, wie ich ihn bislang noch nie hatte. Wie für eine Ewigkeit.
Ob sie studiert? Ja. Es macht ihr Spaß. Ob sie arbeitet? Natürlich. – Es gibt Jobs, die kannte ich vorher noch nicht einmal. Hoteltesterin zum Beispiel oder Gäste-Führerin in der sächsischen VW-Manufaktur.
Und ich? –  Ich halte erst einmal das Zimmer leer und frei. Um es mit Schritten zu durchmessen oder Musik zu hören.
Ach so, per SMS schrieb sie mir, dass sie beim nächsten Besuch noch die Geburtsurkunde mitnehmen möchte und wir uns ja bald Wiedersehen! Darauf freut sie sich, schon aus Sorge, dass ich sonst nicht genug essen könnte. Wie sie darauf kommt? Mir geht es gut.

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