Weibblick - Magazin aus Frauensicht

Magazin aus Frauensicht

Eugenik für den Hausgebrauch

163 Millionen – so viel mehr Mädchen und Frauen würden heute in Asien leben, hätten ihre Eltern nicht einen Sohn bevorzugt und die Schwangerschaft deshalb abgebrochen. Mara Hvistendahl hat darüber ein äußerst lesenswertes Buch geschrieben, das nun auf Deutsch erschienen ist.

Für Hvistendahl, die in China studiert hat, in Shanghai unterrichtet und unter anderem als Asienkorrespondentin der Zeitschrift Science arbeitet, waren diese 163 Millionen fehlenden Frauen der Ausgangspunkt für eine breit angelegte Recherche, die sie auf drei Kontinente führte. Ihr Buch nimmt uns mit: Wir lernen in Paris den besorgten Demografen Christophe Guilmoto und im chinesischen Suining den stolzen Zwillingssohn-Vater Wu Pingzhang kennen; treffen in Tirana auf die Leiterin des albanischen Büros des UN-Bevölkerungsfonds, Flora Ismaili, und in Delhi auf den Gynäkologen Puneet Bedi; wir machen die Bekanntschaft des NGO-Anwaltes Tran Tuan Dung, der sein Leben riskiert und vietnamesische Zwangsprostituierte aus chinesischen Bordellen befreit, und reisen mit Hvistendahl auf dem Rücksitz eines Motorrollers in die weit entlegenen Dörfer des Mekong-Delta, wo der Verkauf der Töchter den Eltern einen bescheidenen Wohlstand beschert; wir lernen die geschiedene Importbraut Do Thi Nguyet kennen, die in Taipeh gemeinsam mit ihrer Schwester eine kleine Nudelküche betreibt, und landen schließlich in einer der zahlreichen privaten Fertilitätskliniken für Betuchte in Los Angeles. Wir erfahren auf dieser Reise: Der Wunsch, zu entscheiden, ob man einen Jungen oder ein Mädchen bekommt, ist ein globales Phänomen. Die Folgen, die es hat, wenn aus diesem Wunsch eine Praxis wird, sind es ebenfalls.

Der französische Demograf Christophe Guilmoto ist einer der Ersten, der sich ausführlich mit dem Thema vorgeburtliche Geschlechtsselektion befasst hat. Die Zahl von 163 Millionen hat er errechnet, nachdem er feststellte, dass sich das Ungleichgewicht zwischen der Zahl neugeborener Mädchen und Jungen immer mehr verstärkte. Betroffen sind davon Südkorea, Taiwan und Teile von Singapur, Vietnam, dazu Indien und vor allem China. Aber auch in Westasien, in Aserbaidschan, Georgien und Armenien sowie im europäischen Albanien werden heute bereits bis zu einem Fünftel mehr Jungen als Mädchen geboren. Bosnien, Serbien, Montenegro, das Kosovo und Mazedonien könnten laut Guilmoto die nächsten Staaten sein, in denen deutlich weniger Mädchen als Jungen zur Welt kommen.

Kulturelle Gründe?

Schon die Vielzahl der betroffenen Länder zeigt, dass die klassische Lesart, wonach hohe Mitgiftzahlungen in Indien oder die chinesische Ein-Kind-Politik für das Verschwinden der Mädchen verantwortlich sind, zu kurz greifen. Zwar bestreitet auch Guilmoto nicht, dass kulturelle und soziale Zwänge eine Rolle spielen, wenn Eltern lieber Söhne als Töchter bekommen. Doch andere Faktoren müssen dazukommen: Erst wenn eine rapide wirtschaftliche Entwicklung mit einem starken Geburtenrückgang, einer flächendeckenden Verfügbarkeit von Ultraschalluntersuchungen und Abtreibung als einer gängigen Praxis der Geburtenkontrolle einhergeht, so sein Befund, wird aus der – weit verbreiteten – Bevorzugung von Söhnen ein faktisches Seltener-Geborenwerden von Mädchen. Das bedeutet aber auch: Zahlreiche Weltregionen könnten in den nächsten Jahren folgen.

Die Auswirkungen dieses Geschlechterungleichgewichts auf die betroffenen Gebiete schildert Hvistendahl ausführlich. Denn weit davon entfernt, den Wert der Frauen zu steigern, setzt ihr schrumpfender Anteil sie einem steigenden Risiko aus, Opfer von Gewalt zu werden. Frauenhandel, Zwangsverheiratung und Zwangsprostitution haben in den ärmeren Regionen Ostasiens deutlich zugenommen; allein in China ist die Zahl der inländischen Ehemigrantinnen auf über vier Millionen gestiegen, die Zwangsprostitution im Grenzgebiet zu Vietnam boomt.

Der kleine Skandal im großen

Obwohl selektive Geburtenkontrolle also heute schon massive Folgen für das Leben von Millionen Menschen hat, ist von UN-Seite bislang wenig zum Thema zu hören. Hvistendahl macht dafür zwei Gründe aus. Zum einen habe der UN-Bevölkerungsfonds seit den Sechzigerjahren, aus Angst vor einer vermeintlichen Bevölkerungsexplosion, wichtigen Anteil daran gehabt, Abtreibung in Entwicklungsländern als Instrument der Geburtenkontrolle zu etablieren. So wurden den Regierungen in Südkorea, China und Indien horrende Summen für Programme zur Bevölkerungskontrolle zur Verfügung gestellt, obwohl klar war, dass diese auch für Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisierungen genutzt wurden. Die Einführung einer einfachen Methode zur Geschlechtsbestimmung galt den ExpertInnen dabei sogar als „besonders wünschenswert“: Indem man den Frauen ermöglichte, zielgerichtet Söhne zur Welt zu bringen, würden sie, so hoffte man, insgesamt weniger Kinder bekommen. Tragbare Ultraschallgeräte wurden in die entlegensten Provinzen gebracht. Die Rechnung ging auf, die Geburtenrate sank – vor allem zulasten der Mädchen.

UN-Mitarbeiterinnen scheuen laut Hvistendahl aber noch aus einem anderen Grund vor klaren Bekenntnissen zurück: Nachdem sie oft jahrelang für das Recht der Frau auf Abtreibung gestritten hätten, falle es ihnen nun schwer zuzugeben, „dass Frauen dieses Recht missbrauchen“. Auch amerikanische Nichtregierungsorganisationen seien aus diesem Grund nicht bereit, das Thema vorgeburtliche Geschlechtsselektion auf die politische Agenda zu setzen – und überlassen es damit der christlichen Rechten, die es, wie die Autorin zeigt, geschickt für ihre Zwecke instrumentalisiert: Der Kampf gegen geschlechtsselektive Abtreibungen ist für sie nur ein erster Schritt zu einem generellen Abtreibungsverbot.

Eine klare Positionierung ist also dringend geboten. Wie die aussehen könnte, formuliert der indische Gynäkologe Dr. Puneet Bedi: „Man hat die Wahl, ob man ein Kind haben will oder nicht. Aber sobald man sich dafür entschieden hat, gibt es keine Wahlfreiheit mehr, da kann man sich nicht aussuchen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, ob schwarz oder weiß, groß oder klein.“

Kinderwunschbäume stehen in manchen Tempelanlagen in Indien. Die Menschen beten dort für ein Kind, bzw. für eine Schwangerschaft. Oft sind es Frauen, die nicht schwanger werden. Aber manche Familien beten dort auch für das Geschlecht ihres Kindes, dass sie erwarten. Dafür hängen sie an Bändern, kleine Plastikpüppchen in den Baum, eine Art Opfer, das sie darbringen. Foto: Petra Welzel

Kinderwunschbäume stehen in manchen Tempelanlagen Indiens. Die Menschen beten dort für ein Kind oder für eine Schwangerschaft. Oft sind es Frauen, die nicht schwanger werden. Manche Familien beten dort auch für das Geschlecht des Kindes, das sie erwarten. Dafür hängen sie an Bändern kleine Plastikpüppchen in den Baum: eine Art Opfer, das sie darbringen. Foto: Petra Welzel

Oder, ob es krank oder gesund ist. Denn auch das zeigen Hvistendahls Recherchen: Ob Fruchtwasserpunktion, Ultraschall oder Präimplantationsdiagnostik – keines der Verfahren, die heute zur Geschlechtsselektion genutzt werden, wurde eigens dazu entwickelt. Immer war der – nachvollziehbare – Wunsch nach einem gesunden Kind das Einfalltor für die entsprechende Technik. Doch sind die Methoden erst einmal verfügbar, werden sie auch zu nicht-medizinischen Zwecken genutzt: In Los Angeles, der letzten Station von Hvistendahls Reise, bieten private Fertilitätskliniken die vorgeburtliche Geschlechtswahl mittels PID an – um „gender disappointment“ (Enttäuschung über das „falsche“ Geschlecht) bei ihren Kundinnen vorzubeugen. Diese wollen allerdings zu 75 Prozent – eine Tochter. Die Gründe, die sie dafür angeben, sind vielfältig: Von rosa Haarspangen und gemeinsamen Shoppingtouren ist ebenso die Rede wie von gutem Betragen oder einer starken Mutter-Tochter-Beziehung. Der Erwartungsdruck auf Kinder, deren Mütter diese Form der „Eugenik für den Hausgebrauch“ (Hvistendahl) praktizieren, dürfte immens sein. Selektive Geburtenkontrolle ist damit nicht zuletzt eine extreme Form des „doing gender“, das vor der Geburt einsetzt, aber keinesfalls mit ihr endet.

Weitere Texte zum Thema Verfügbarkeit gibt es in der neuen Ausgabe der Zeitschrift FrauenRat, die Ende April erscheint.

Mara Hvistendahl: Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen. Aus dem Englischen von Kurt Neff. dtv, München 2013, 424 Seiten, 24,90 Euro.

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