Weibblick - Magazin aus Frauensicht

Magazin aus Frauensicht

Der Wink mit dem Finger

Eigentlich wollte ich dieses Mal an dieser Stelle ausschließlich über die gebrochenen Hände meiner Mutter schreiben. Das Handicap einer 77-Jährigen, deren Rente bei knapp 1.000 Euro im Monat liegt, von der sie allein über die Hälfte für ihre Wohnung abdrücken muss.

Ich selbst kann nur ahnen, wie unfähig man sich fühlen muss, wenn man seine Hände nicht mehr benutzen kann. „Das ist ganz schön beschämend, wenn man sich nicht einmal mehr selbst ohne Hilfe den Po sauber machen kann“, sagt meine Mutter. Diese Hilfe benötigte sie aber ungefähr einen Monat lang. Morgens und abends kommt eine Pflegerin zu ihr, um ihr beim An- und Auskleiden zu helfen. Sie bereitet meiner Mutter das Frühstück und Abendbrot. Mehr nicht. Am Mittag kommt Essen auf Rädern. Sauber machen kann sich meine Mutter inzwischen selbst. Alles andere kostet sie rund 1.000 Euro im Monat, die sie nicht hat.

Schöne Scheiße

Aber sie hat jetzt eine Menge Papierkram, Telefonate und Gespräche, um diese Rechnung von irgendjemandem begleichen zu lassen. Denn weder ihre Krankenversicherung noch die Pflegeversicherung ist für solche Haushaltshilfen zuständig. Erstere nicht, weil in ihrem Haushalt kein Kind unter 12 Jahren mehr lebt. Was bei einer 77-Jährigen ja irgendwie auch komisch wäre, und als ginge es nur darum, ein Kind zu versorgen, dass nicht mehr entsprechend versorgt werden kann. Die eigentlich Kranke scheint da völlig egal zu sein. Die Pflegeversicherung zahlt nicht, weil meine Mutter noch nicht chronisch pflegebedürftig ist. Schöne Scheiße, möchte man rufen.
Oder wie Peer Steinbrück auf dem Cover des Süddeutsche-Zeitung-Magazins den Mittelfinger hochstrecken. Ich hätte da kein Problem mit. Meine Mutter schon. Allein aus dem Grund, weil es ihr ihre noch nicht verheilten Brüche einfach nicht erlauben würden. Und weil es ganz und gar nicht ihre Art wäre.

Gar nicht so leicht, den Finger hochzukriegen, Foto: weibblick

Gar nicht so leicht, den Finger hochzukriegen, Foto: weibblick

Das sagen jetzt auch alle Kritiker von Steinbrücks Mittelfinger, dass das ja nun nicht die Art eines Kanzlerkandidaten sein kann. Und überhaupt: Gegeben habe es so etwas auch noch nie. Ja, in welcher Welt leben die denn alle? Diesen Wink mit dem Finger versteht inzwischen die ganze Welt, und Steinbrücks Finger ist deshalb auch schon auf seiner Reise um die Welt.

Vermutlich werden bis zum 22. September, wenn wir hier in Deutschland zur Bundestagswahl antreten werden (meine Mutter übrigens auch, sie wird das dann im Wortsinn mit links machen), mehr Menschen auf der Welt Peer Steinbrück kennen als unsere noch amtierende Kanzlerin Angela Merkel. Die Christsozialen haben mit Merkels Lieblingsgeste, den zur Dreifaltigkeit angelegten Fingern vor ihrem Uterus, nichts mehr zu reißen. Die Sozialdemokraten kehren mit Steinbrücks Stinkefinger wieder zurück zu ihren Wurzeln, zur Arbeiterbewegung, zu den Unterdrückten, den Menschen, die klare Worte genauso gut verstehen wie einen unmissverständlichen Fingerzeig.

Ob es am Ende reichen wird und sein Fingerzeig nach oben auch seine Partei über die 30-Prozent-Hürde hievt, ist dabei im Prinzip bedeutungslos. Steinbrück kann nicht nur besser reden als Merkel, er kann offenbar auch sehr viel besser performen. Es gibt im Magazin der SZ noch einige andere Fotos von Steinbrück, auf denen er lediglich mit seinem Gesicht und seinen Händen auf die Fragen des SZ-Reporters antwortet. Ein Bild ist so klasse wie das andere. Am Ende, nach der Wahl, werden wir nur ahnen können, welchen Kanzler wir nicht gehabt haben werden.

Meine Mutter wird dann noch weiter Fingerübungen machen müssen. Geklärt hat sich inzwischen, dass die Pflegekasse 450 Euro der Kosten übernimmt, wir, die Kinder, müssen den Rest für ihre vorübergehende Haushaltshilfe übernehmen. Schlimmer hätte es nicht kommen können für meine Mutter, dass ihre Kinder für sie aufkommen müssen. Das geht eigentlich gar nicht aus ihrer Sicht. Und eigentlich bleibt ihr nun auch nichts anderes mehr übrig, als ihren Mittelfinger zu erheben. Verdient hätte ihn unser Gesundheitssystem, das sämtliche Bundesregierungen jeglicher Farbenspiele ausverkauft haben, allemal. Und nicht nur den meiner Mutter, sondern in einer ganz großen Geste millionenfach.

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