Weibblick - Magazin aus Frauensicht

Magazin aus Frauensicht

Wo bleibt die Zeit?

Zum Lunch mit dem Wissenschaftsautor Stefan Klein

Stefan Klein

Stefan Klein

13 Uhr im Café Einstein Unter den Linden. Ich bin mit Stefan Klein verabredet, dem Physiker, Wissenschaftsjournalisten und Autor des Bestsellers „Zeit – Der Stoff, aus dem das Leben ist“. Er ist pünktlich, ich bin es auch. Wir haben genau eine Stunde Zeit, um über Zeit zu sprechen und dabei zu essen. Danach wird er im Funkhaus für den ORF erwartet. Wir müssen uns also beeilen. Um uns herum ist es laut. Ich beuge mich über den Tisch und frage ihn: Was ist für Sie Zeit? Und befürchte, dass er das Weite sucht. Aber er bleibt und antwortet.


Stefan Klein:
Die Frage ist, ob es so etwas wie Zeit in einem physikalischen Sinn überhaupt gibt. Die Zeit, in der wir leben und die wir erleben, ist nicht die Zeit ist, die die Uhr anzeigt, sondern etwas viel Weicheres: sie ist dehnbar, streckbar, stauchbar.

Annette Maennel: Wir arbeiten weniger und leben länger, und im Haushalt helfen Maschinen. Und dennoch meinen viele, zu wenig Zeit zu haben. Logisch ist das nicht.

Stefan Klein: Nein. Logisch ist das nicht. Eine Industriearbeiterin hatte 1890 in Deutschland zur Hochzeit der Industrialisierung ein massives Zeitproblem. Sie war 60 Stunden die Woche abhängig beschäftigt und hatte Kinder und Familie. Darüber wurde aber nicht geredet. Es hat etwas mit den Erwartungen der Gesellschaft zu tun. Das betrifft besonders die Frauen. In der Generation meiner Eltern und auch in Ostdeutschland hatten die es leichter. In Ostdeutschland gab es bessere Strukturen, um Berufstätige zu unterstützen. In Westdeutschland schickte es sich nicht, als Mutter berufstätig zu sein. Und sehr viele Menschen – nicht alle – haben mehr Wahlmöglichkeiten im Leben. Dazu sind wir einer ständig zunehmenden Menge an Reizen ausgesetzt, die uns die Zeit knapp erscheinen lassen.

Die Qual der Wahl? Liegt es nicht daran, dass es uns bisweilen schwerfällt, sich für etwas zu entscheiden und etwas anderes dafür zu lassen? Und darf ich erwarten, dass alle meine persönlichen Ansprüche und Hoffnungen auf gleichzeitige Karriere, Familie, Hobbys, Reisen und Wellness-Wochenenden mit mehr individueller Zeit berücksichtigt werden?

Stefan Klein: Sie sprechen mir aus der Seele. Es gibt Leute, die haben sich Entschleunigung auf die Fahnen geschrieben. Das ist ein antimoderner Diskurs. Erstens ist überhaupt nicht klar, wie die angeblich so entschleunigte Gesellschaft politisch umgesetzt werden soll. Zweitens glaube ich nicht, dass es irgendjemand wirklich will. Die Leute genießen es doch, dass in ihrem Leben etwas los ist. Natürlich kann es eine Gesellschaft den Menschen leichter oder auch schwerer machen kann, sich ihre Zeit einzuteilen und zu einem befriedigenden Zeiterleben zu kommen. Das ist eine Aufgabe für die Politik wie auch eine kulturelle Aufgabe.

Es gibt natürlich einen Teil von Menschen in unserer Gesellschaft, die keine Wahl haben. Menschen, die kaum von ihrer Arbeit leben können. Das sind nicht unbedingt die, die jammern. Aber die haben ein ganz reales Problem.

Wer jammert denn am meisten?

Stefan Klein: Der gefühlte Zeitdruck ist umso höher, je wohlhabender die Menschen sind. Das ist erst einmal ziemlich erstaunlich, weil diese Leute, die sich so über den Zeitdruck beklagen, sich Dienstleistungen einkaufen können, die sie entlasten: Putzfrau, Kinderfrau… Warum jammern sie also? Je weniger sie durch andere Faktoren eingeschränkt sind, wie zum Beispiel zu wenig Geld und je mehr Möglichkeiten sie im Leben haben, umso mehr mangelt es ihnen an Zeit, all das zu tun, was möglich wäre.

Wie steht es um unsere Zeit-Planung?

Stefan Klein: Unsere Lebenserwartung ist gewaltig angestiegen. Aber wir leben noch in den alten Zeit-Mustern: Mit 30 sollst du wissen, wo du beruflich stehst, mit 40 einen großen Teil deiner Karriere geschafft haben und mit 50 brauchst du überhaupt nicht mehr versuchen, dich anderswohin zu bewerben, weil du mit 65 in Pension gehst. Das ist absurd. Wir drängen auch viel zu viel in die ersten 35 Lebensjahre hinein. Das ist natürlich die Zeit, in der Frauen Kinder bekommen können. Und die sie im Spagat zwischen Familien und Karriere verbringen. Völlig überholt.

Wir müssen die Lebensarbeitszeit anders verteilen, und das ist etwas, wo die Politik sehr viel tun kann. Vielleicht müssen wir weg von einem starren Rentenalter. Man könnte überlegen, das Einkommen über längere Zeiträume zu strecken.

Was muss der Mensch tun oder wie muss er sein, damit er die richtige Balance findet? Ein, wie Sie sagen, „befriedigendes Zeit-Erleben?

Stefan Klein: Erstens geht es da um persönliche Werte. Diese Fragen sind nicht abgehoben, sie äußern sich ganz konkret. Nehme ich als Freiberuflicher noch einen Auftrag an oder verbringe ich die Zeit mit meinen Kindern? Mache ich Karriere im Unternehmen? Was ist der Preis? Es geht, zweitens, darum, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse, aber auch Ängste, kennen. Das, was sich vielen Menschen als Zeitmangel darstellt, ist sehr häufig eine Angst vor irgendetwas. Denken Sie an die gestressten Mütter, die meinen, vor dem Kita-Geburtstag noch einen Kuchen backen zu müssen und sich dann furchtbar gehetzt fühlen.

Was ist das Problem?

Stefan Klein: Das Problem ist nicht, dass die Frau zu wenig Zeit zum Kuchenbacken hat. Das Problem ist, dass sie Angst hat, als Rabenmutter dazustehen, wenn sie ihr Kind mit einem gekauften Napfkuchen in die Kita schickt.

Hätte sie sich die Zeit besser einteilen müssen und den selbstgebackenen Kuchen auf ihre Prioritätenliste ganz nach oben setzten sollen, würden die Effizienz-Gurus jetzt sagen.

Stefan Klein: Das Problem dieser ganzen sogenannten Zeitmanagementtechniken ist, dass sie nicht funktionieren. Sie beruhen darauf, dass sich die Leute irgendwelche abstrakten Ziele setzen, zum Beispiel: heute mache ich von 17 bis 18 Uhr meine Umsatzsteuererklärung, und dann darauf setzen, dass die Steuerung der Aufmerksamkeit dem tatsächlich folgt. Wissen Sie was? Ich habe überhaupt keine Lust, heute zwischen 17 und 18 Uhr meine blöde Umsatzsteuererklärung zu machen. Und wenn sie 37 Mal auf meiner Prioritätenliste ist, werde ich sofort ablenkbar sein, weil Aufmerksamkeit automatisch gesteuert ist. Das heißt, wenn ich das tun will, dann genügt es nicht, wenn ich mir aufschreibe: Umsatzsteuererklärung machen, weil ich das nicht wirklich will, sondern ich muss mir überlegen, was ich wirklich will. Das kann zum Beispiel sein: Ich will um 18 Uhr schwimmen gehen.

Wenn man jederzeit tun kann, was man will, hat man kein Zeitproblem, das stimmt. Aber so ist es ja nicht. Wir leben nicht in Lummerland.

Stefan Klein: Ich bin davon überzeugt: In einem Arbeitsleben, in dem Menschen genauer wissen, warum sie etwas tun und sich im Idealfall damit auch noch identifizieren, taucht viel weniger Gejammer über Zeitprobleme auf.

Lassen Sie uns noch einmal über die Sozialen Medien sprechen. E-Mails, Facebook, Twitter, Instragram, Flickr., Youtube, WhatsUp, Spiele, … kosten Zeit.

Stefan Klein: Twitter ist wirklich das Grab. Im Prinzip ist es ein tolles Medium. Ich habe es drei Monate lang gemacht, bis ich anfing, mein letztes Buch zu schreiben. Dann merkte ich: Das kann ich nicht. Ich kann nicht ein Buch schreiben und twittern. Das war dann meine letzte Twittermeldung. Es geht nicht um die paar Minuten, die Sie auf Ihr Twitter- oder Facebook-Account starren. Es geht um jede einzelne der Störungen. Sie müssen sich von jedem Blick auf Twitter oder was immer Sie haben, erholen. Sie müssen buchstäblich zurückfinden in das, was Sie eigentlich tun wollen. Und das kostet verdammt viel Zeit. Wirtschaftlich gesprochen: Wir gehen lausig schlecht um mit unserem Humankapital. Lausig!

Sie haben Ihr Buch „Zeit – Der Stoff, aus dem das Leben ist“ 2006 geschrieben. Würden Sie das Buch heute genauso schreiben?

Stefan Klein: Ja. Es haben sich bestimmte Dinge verschärft, natürlich, wir haben gerade davon gesprochen: elektronische Medien. Das gab es auch 2006 schon, aber nicht in dem Maße. Und wir machen familienpolitisch ein bisschen schneller Fortschritte, als ich das erwartet habe.

Wir blicken auf die Uhr: Stefan Klein wird zu spät zum ORF kommen. Er saust los.

Hauswand in der Oranienburger Straße in Berlin

Stillstand. Auf der Oranienburger Straße, Foto: Annette Maennel

Stefan Klein ist 50 Jahre alt und Vater von drei Kindern. Seine Bücher sind allesamt Bestseller. „Die Glücksformel“, „Alles Zufall“, „Zeit – Der Stoff, aus dem das Leben ist – eine Gebrauchsanleitung“ und aktuell „Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit“; S. Fischer Verlag.

Das Interview erschien auch in Boell.Thema „Sehnsucht nach Zeit“, Nr. 2, 2015

 

 

 

 

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