Weibblick - Magazin aus Frauensicht

Magazin aus Frauensicht

Vom Flüchten und Ankommen

33 Bogen und ein Teehaus: Mehrnousch Zaeri-Esfahani erzählt von ihrer Flucht als Kind aus dem Iran nach Deutschland

Schöne Stadt Isfahan

Das Mädchen Mehrnousch, Tochter eines Chirurgen und einer Krankenschwester, erlebt mit ihren Geschwistern, Tanten und Cousins eine unbeschwerte und behütete Kindheit in der Stadt Isfahan im Iran der 70iger Jahre. Sie wohnen in einem großen Haus, haben Bedienstete und einen Swimming-Pool im Garten.

Sie haben so viel Platz, dass die kleine Mehrnousch auch streunende Katzen aufnehmen kann, ohne dass die Mutter schimpft. Ihre Brüder lieben die Musik von Michael Jackson und trainieren seine Tanzschritte so lange, bis sie diese in engen Hosen fehlerfrei nachtanzen können.

Revolution

Gemeinsam feiern sie 1979 die Vertreibung des Schahs, sitzen auf den Dächern und hoffen auf eine bessere Zukunft für alle unter ihrem „rechtmäßigen“ Führer Ayatollah Chomeini. Der Wunsch erfüllt sich nicht: Die Freiheiten werden in allen Lebensbereichen eingeschränkt.

„Die neue Regierung erließ fast monatlich neue Vorschriften und Gesetze. Nach der strengen Kleiderordnung für alle kam das Verbot weltlicher Musik. Im einzigen Fernsehprogramm liefen den ganzen Tag Korangesänge, Kriegslieder und Trauergedichte, rezitiert, gesungen und vorgetragen von Männerstimmen, denn Frauen durften nicht ihre Stimme einsetzen.(…)

Spielfilme und Videos wurden verboten. Spiele auch. Schach war nicht erlaubt. (…) Tanzen wurde bei Gefängnisstrafe verboten (…) Verliebt sein war ebenfalls verboten.“

Der Abgesandte Allahs errichtet im Namen des Propheten eine brutale Willkürherrschaft, lässt Andersdenkende durch die Pasdaran verfolgen. Diese Einheit ist eine Art zweites Militär, die zum Schutz der islamischen Revolution die Bevölkerung kontrolliert, Menschen foltern oder verschwinden lässt.

Michal Jackson zu hören grenzt an Hochverrat; kein Haar darf aus dem Kopftuch von Mehrnousch hervorlugen, in der Schule werden die Kinder von ihren Lehrern ausgehorcht. Es herrscht Angst und Schrecken, gegen die das Mädchen rebelliert. Als Schülerin lernt sie zu unterscheiden, was sie sagen darf und was nicht. Als iranische Jungen während des Krieges gegen den Irak ab 12 Jahren in den Kampf ziehen sollen, ohne davor die Einwilligung ihrer Eltern einholen zu müssen, beschließt die Familie, zu fliehen. Die Eltern haben Angst um ihre Söhne.

„Sie hämmerten ihnen ein, dass es eine Ehre sei, für die iranischen Muslime – die Schiiten – im Krieg zu sterben. Und wenn sie im Krieg fielen, dann kämen sie sofort in den Himmel. Die Metallplakette um ihren Hals sei der Schlüssel zum Himmel.“

„Die Erwachsenen sprachen von „Gehirnwäsche“. Ich stellte mir die schlimmsten Dinge darunter vor. Es war mir ein Rätsel, warum die Jungs sich freiwillig das Gehirn waschen ließen. Ich dachte, das müsste doch wehtun. Viele dieser Jungs bleiben auf den Schlachtfeldern“.

Flucht

Die Familie überlässt für wenig Geld ihr Hab und Gut einer Familie vom Lande. Es ist ihnen bewusst, dass sie eine ungewisse Zukunft erwartet und in Armut leben werden. Was sie nicht wissen ist, dass sie in keinem Land erwünscht und dass ihr Wissen und Können nicht gefragt sind. Nur wenige Sachen können sie mitnehmen, ein paar Fotos, ein paar Sachen, ein paar Gewürze.

In Etappen flieht die Familie über Istanbul und Ostberlin nach Westdeutschland. Schnell lernt Mehrnousch türkisch und beginnt sich in der Stadt am Bosporus wohlzufühlen. Doch bleiben können sie nicht: weder dürfen die Kinder zur Schule, noch findet der Vater Arbeit. Ein Bekannter erzählt dem Vater, dass er über die DDR nach Westdeutschland kommen könnte.

„Aber warum sollen die uns ein Visum ausstellen? Uns will niemand haben“, antworte mein Vater. „Doch, die wollen nur Westdeutschland ärgern. Sie wissen ja, dass niemand freiwillig bei ihnen bleibt. (…) Und Westdeutschland muss uns aufnehmen. Es hat sich dazu verpflichtet. So hat Ostdeutschland dem Westen einen Streich gespielt, verstehst du?“, fragte er meinen Vater“.

Der Vater ergattert 1985 in der Botschaft der Deutschen Demokratischen Republik nach einer langen Nacht des Wartens das Visum für die Einreise in die DDR. In ein Land, das von einer Mauer eingezäunt ist, die unüberwindlich ist –

„wie eine Gefängnismauer“, kündigte mein Vater an. „Man hat sie gebaut, um die Menschen, die im östlichen Teil des Landes leben, daran zu hindern, in den anderen, den westlichen Teil zu gehen“. (…)

Mehrnousch muss mit. Sie hat Angst. Nach einem langen Flug folgt ein stummer Lauf durch Berlins Straßen zur S-Bahnstation unter der Erde. Unter den strengen Blicken der Polizisten werden sie in den Westen durchgewunken. In West-Berlin angekommen, sind die Straßen leer. Sie wundern sich, bis sie erfahren, dass Weihnachten ist und die Menschen mit ihren Familien zu Hause feiern. In einem Taxi fahren sie zum Hotel.

Danach beginnt die Odyssee durch etliche Flüchtlingsheime. Die Eltern bemühen sich sehr, nichts falsch zu machen, doch sind sie von der Situation überfordert.

„Wir zweifelten an unserem eigenen Verstand, denn nichts stimmte mehr. Alles hatte sich verändert. Wir zweifelten nicht nur an unserem eigenen Verstand, sondern auch an unseren fünf Sinnen. Denn wir froren noch immer, obwohl wir beobachteten, wie die Menschen außerhalb des Flüchtlingsheims sich wie im Frühling verhielten. (…) War das, was sich kalt anfühlte, in Wahrheit warm? Stimmte etwas mit unserer Haut nicht mehr?“

Ankommen

Nach vielen Hoffnungen und Enttäuschungen findet die sechsköpfige Familie in Heidelberg eine neue Heimat. Sie erhalten eine Wohnung mit einem eigenen Schlüssel. Was für ein Glück! Mehrnousch trifft auf eine Lehrerin, die ihr hilft und sie findet Freundinnen, wie das gleichaltrige Mädchen aus der Türkei.

Einfach und mit poetischer Kraft erzählt Mehrnousch Zaeri-Esfahani ihre eigene Geschichte vom fünften bis zum elften Lebensjahr.

Sie erzählt aus der Sicht des Kindes von den schönen, den vielen traurigen, aber auch lustigen Erlebnissen dieser Jahre.

Es ist ein starkes, es ist ein wunderbares Buch für Jugendliche und Erwachsene. Es ist ein Buch, in dem der Mensch – ein Kind – im Mittelpunkt steht.

 

Buchtitel: 33 Bogen und ein Teehaus

Buchtitel: 33 Bogen und ein Teehaus

Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus, Peter Hammer Verlag, 2016, 145 Seiten. Mit Illustrationen von Mehrdad Zaeri-Esfahani

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