Weibblick - Magazin aus Frauensicht

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Das Tagebuch der Charlotte Rotstetter

Zwei Frauen, zwei Leben, zwei Erzählebenen: Die Journalistin Barbara Dribbusch nähert sich in ihrem Roman „Schattwald“ dem heiklen Thema der Psychiatrie im Dritten Reich

Zwei Frauen, zwei Leben, zwei Erzählebenen: Die Journalistin Barbara Dribbusch nähert sich in ihrem Roman „Schattwald“ dem heiklen Thema der Psychiatrie im Dritten Reich

Titel, Schattwald, Roman von Barbara Dribbusch

Schattwald, Roman von Barbara Dribbusch

„Die Traurigen müssen ins Eis.“ An diesen Satz, den ihr mal ein Freund sagte, muss Charlotte Rotstetter denken, als sie im eiskalten Winter 1943 durch das Ötztal marschiert. „Die Traurigen müssen ins Eis.“ Wenn es draußen so kalt ist, dass die Außentemperatur zur Kälte des Herzens passt, dann ist die Seele eins mit der Landschaft. So ähnlich hatte er es gesagt.

Charlotte Rotstetter ist eine magere Zwanzigjährige, die sich in den viel zu weiten Hosen ihres Bruders zu verstecken sucht, und sich so kalt fühlt wie die eisigen Temperaturen, seit sie ihren Bruder Robert an den Krieg verloren hat. Die Geschwister waren wie zusammengeschweißt, durch Roberts Tod wird Charlotte seelisch krank.

So krank, dass ihre Familie beschließt, sie nach Schattwald in ein Sanatorium zu schicken. Dort soll das Mädchen gesund werden und von den Wirrnissen der Zeit fern gehalten werden. Doch was Charlotte in Schattwald erlebt, irritiert sie zunächst, beunruhigt sie später und lässt in ihr am Ende ungeahnte Kräfte wachsen. Denn Schattwald, das versteht Charlotte bald, ist keine normale Nervenheilanstalt. Die Klinik steht unter besonderer Beobachtung der Nazis, hier laufen Dinge ab, die mysteriös wie brutal zu sein scheinen.

Schattwald ist nicht nur der Titel des ersten Romans der Berliner Journalistin Barbara Dribbusch. Schattwald gibt es tatsächlich. Es ist eine kleine Gemeinde im westlichen Zipfel Österreichs, das im Sommer von Wanderern und im Winter von Skitouristen belagert wird. Für Dribbusch ist Schattwald aber noch etwas anderes: ein fiktiver Ort, an dem sich die Nazi-Verbrechen an seelisch angeschlagenen Menschen gut beschreiben lassen.

Dribbusch hat einen Krimi geschrieben, obwohl sie ihr Buch selbst nicht so bezeichnet. Es liest sich leicht und zügig weg. Der Plot, der auf zwei Zeitebenen spielt, ist rasch erzählt: Anne Süd hausen, Ressortleiterin einer deutschen Wohlfühl-Frauenzeitschrift, reist nach Innsbruck, um die Beerdigung und den Nachlass ihrer verstorbenen Großmutter zu regeln. Sie ist die einzige noch lebende Verwandte, hatte zu ihrer Großmutter als Kind immer einen guten Draht, obwohl deren Härte häufig nicht verstand. Seit mehr als zwanzig Jahren hatten die beiden keinen Kontakt mehr. Das schlechte Gewissen nagt an Anne, als sie das Haus ihrer Großmutter betritt. Daher ist sie umso überraschter, einen persönlichen Brief der alten Dame an die Enkelin zu finden. Und Tagebücher, die ihre Großmutter – jene Charlotte Rotstetter – geschrieben hat, als sie in Schattwald war. Die eng mit Bleistift vollgeschriebenen Kladden, die die zweite Erzählebene bilden, sind mehr als nur ein Tagebuch. Sie belegen die Machenschaften der Nazis und geben zudem einen Einblick in das Innenleben solcher Einrichtungen.

Was in Schattwald passierte, reicht in Dribbuschs Roman bis in die heutige Zeit. Das versteht Anne schnell, als es eine weitere Tote gibt, allerdings ein unnatürlicher Todesfall. Anne selbst gerät in Gefahr und muss die Tagebücher ihrer Großmutter verstecken.

Das ist spannend, das ist unterhaltsam, das ist Bildung. Barbara Dribbusch hat genau recherchiert, sich durch Akten und Archive gewühlt, Geschichtsbücher gewälzt und sich mehrfach an ihre Erzählorte begeben. Herausgekommen ist eine Geschichte über eine kaum beleuchtete Facette der Nazi-Zeit. Herausgekommen sind ebenso die Porträts zweier Frauen, die zwar miteinander verwandt sind, sich am Ende aber gar nicht kannten. Charlotte versteht erst nach dem Lesen der Tagebücher, wer ihre Großmutter war, was sie durchlitten und was sie geleistet hat.

Dribbuschs Roman hat gerade ein cineastisches Pendant erfahren: Kürzlich ist der Film „Nebel im August“ in den Kinos angelaufen. Darin wird die Geschichte des Jungen Ernst Lossa erzählt, der 1944 mit 14 Jahren von den Nazis in der geschlossen Psychiatrie ermordet wurde, weil er angeblich psychisch krank war. Es ist ein Film über die Geschichte der Euthanasie der Nazis, die 1939 hinter den verschlossenen Türen der Psychiatrie begann.

So weit geht Dribbuschs Roman nicht. Die Autorin wollte keinen Historienroman und auch kein ausschließliches Buch über Euthanasie und Nazi-Psychiatrie schreiben, sondern die fiktive Geschichte zweier Frauen, die auf historischen Momenten beruht. Das ist gelungen. Wie es gewesen sein muss damals in solchen Einrichtungen und wie Menschen auf kluge Weise Widerstand geleistet haben gegen ein unmenschliches System, das Experimente an Menschen machte, das erfährt man im Roman dennoch.

Und en passant lernt man, wie die Menschen selbst zu Hungerzeiten zu Kartoffelchips kamen. Aber das kann man besser nachlesen.

Barbara Dribbusch. Schattwald. Piper, München, Berlin, Zürich, 2016, 10 €

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