Weibblick - Magazin aus Frauensicht

Magazin aus Frauensicht

Von der Kunst, sich zu verändern

Wie Seraphina Lenz versucht, über eigene Grenzen zu gehen und Kinder dabei mitzunehmen. Ein Kunstprojekt in Berlin-Neukölln namens „Glamourriese“

„Du musst dein Ändern leben.“ Dieser Satz viel neulich in meinen Blickwinkel. Schwarz auf Weiß in großen Versalien klebte er auf einer Backsteinmauer. Und brannte sich mir ein. Der Satz erschien mir sofort logisch und konsequent. Anders geht es gar nicht: Wer etwas ändern will, der muss eben genau das zu seinem Leben machen. Nur wenige Tage später betrete ich über ein paar Stufen die Werkstatt für Veränderungen im Wederkiez in Berlin-Neukölln. Der liegt ziemlich genau dort, wo die Stadtautobahn auf die Buschkrugallee und die U-Bahnstation Grenzallee trifft. Und dort, wo die Künstlerin Seraphina Lenz seit ein paar Jahren jeden Sommer für drei Wochen über ihre eigenen Grenzen geht und versucht, rund zwei Dutzend Kinder und Jugendliche dazu zu bringen, ihre eigenen Grenzen zu überwinden.

Stillleben aus der Probe vom Glamuorriesen

So lebt man das Ändern auch

Das sieht auf den ersten Blick aus, wie eine Beschäftigungsmaßnahme für Kiezkinder, die ansonsten ihre Freizeit auf dem nahegelegenen Spielplatz, vor der Glotze oder mit wer weiß was verbringen. Und Seraphina Lenz ist die Pädagogin mittendrin, die den Haufen aus Kids verschiedener Nationalitäten zusammenhält. Aber das ist nur der erste Eindruck. Ein ungefähr 13-jähriges Mädchen geht auf Seraphina zu und möchte ihr unbedingt auf der Stelle ihren auswendig gelernten Text vorsprechen. Andere Mädchen und Jungen schneiden aus silberner Glitzerfolie zum Aufbügeln Sterne aus und lassen sie an einer Maschine wie in einer Mangel auf Kleidungsstücke pressen. Dann hängen sie sie sorgfältig in eine der zwei Baustellencontainer rechts von der Bühne unter dem weißen Zeltdach, unter dem sie entweder Kostüme präparieren, Texte lernen oder rumtoben.

Links von der Bühne stehen zwei weitere Container, einer mit Toiletten, einer, in dem sich ein Café namens Glitz befindet. Wenn schon nicht der Container glitzert, dann immerhin der Name.

Meine Tochter, die erst gar nicht mitkommen wollte – „kannste vergessen, ich gucke mir keine Kunst an“ – ist jetzt froh, dass sie doch hier ist. Im Kostümcontainer stehen Highheels mit Glitzer und andere glitzernde Schuhe. Es ist eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, in Schuhläden die Pumps mit den höchsten Absätzen anzuziehen und „Tussi“ zu spielen. Und genau darum geht es hier an diesem Ort: Sich zu Verändern, in eine Rolle zu schlüpfen und dabei über sich hinauszuwachsen. Und das nicht nur äußerlich auf Highheels.

Voll im Glamourroesenkostüm

Glamour Girls

Was sich die Kinder in diesem Jahr in nur drei Wochen erarbeiten, ist eine Art Revue, die sie „Glamourriese“ nennen. Jede und jeder ist ein Star, ein großer wohlgemerkt. Die sogenannten Bretter, die die Welt bedeuten, sind hier Allerwelts-Paletten, die sich zu einer Galatreppe türmen, die von beiden Seiten begehbar ist oder eben auf der einen Seite bestiegen und auf der anderen Seite wieder hinuntergegangen werden kann. Seraphina möchte jetzt eine Durchlaufprobe machen. Und nach kurzer Hektik und Aufgeregtheit schlüpfen zumindest die Mädchen in ihre Rollen. Setzen sich auf ihre Texte auf den Treppenstufen und schlagen zunächst zu einem Max Raabe-Schlager die Beine immer wieder übereinander, was mal mehr, mal weniger synchron klappt. Eine knappe Woche bleibt ihnen noch bis zu ihrer Aufführung. Eine Tanzchoreografin wird sie die letzten Tage noch begleiten, weitere Revueteile mit ihnen einstudieren.

Einfach mal den Mund halten

Man kann das eine Art soziale Plastik nennen, was Seraphina Lenz hier macht. Kunst, die vergänglich ist, aber in ihrer Entstehung und Ausgestaltung etwas verändert mit den Menschen, die daran beteiligt sind. Während Joseph Beuys 1972 mit seiner Aktion „Ausfegen. 1. Mai in Berlin Neukölln“ den Müll auf dem Karl-Marx-Platz zusammenfegte, in erster Linie an sich selbst etwas änderte, sein Begriff von Kunst für sich erweiterte, involviert Seraphina Lenz nicht nur die beteiligten Kinder mit in die Aktion, sondern am Ende auch die Familien der Kids. Manche Mütter sitzen vor dem Café Glitz und schauen auch mal zu, wenn sie sich nicht miteinander unterhalten. Geschwister kommen vom Spielplatz rüber und betrachten immer mal wieder neugierig, was passiert. Niemand macht sich lustig, alle nehmen das ernst, auch wenn gerade die jüngeren Kinder nicht immer konzentriert dabei sind. Auch mein Kind begibt sich bei der Durchlaufprobe ganz in die Rolle der Zuschauerin. Normalerweise quatscht sie immer dazwischen, wenn wir im Theater sind. Hier ist sie genervt, dass die Jungs einfach mal nicht den Mund halten können.

Mich erinnert das gerade an eine Ausstellung, die demnächst in der ngbk, der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst zu sehen sein wird. Dort geht es um den Metabolismus in Kunst, Politik, Philosophie und Wissenschaft. Zum einen beschreibt Metabolismus nämlich den anhaltenden Prozess, in dem sich Menschen in einem permanenten Austausch mit ihrer Umwelt befinden. Irgendwie genau das passiert hier gerade an diesem Ort. Und besonders schön passt hier an diesen Ort mitten in Neukölln der Text, den ein Mädchen bei der Durchlaufprobe von einem Brett der Welt spricht: „Ich ziehe niemals Jogginghosen an, die Dinger sind total gefährlich, weil sie einen Gummizug haben. Da merken Sie nicht, dass Sie zugenommen haben.“ Jogginghosen sind ja quasi das Pseudonym für Neukölln, sie haben den Neuköllnern ein nachhaltiges Bild verpasst. Das Mädchen bricht es jetzt und merkt vielleicht gar nicht, wie sie selbst ihr Ändern lebt. Oder doch…

Nach der Probe im Café Glitz

Einmal wer anders sein oder anders werden?

„Glamourriese – Die Show“ ist am 6. September 2014 um 20:30 Uhr zu sehen, Einlass ist ab 19:30 Uhr in der Rungiusstr. 19 in 12347 Berlin-Neukölln

Mehr Infos zu Seraphina Lenz Projekte und mehr unter www.seraphinalenz.de

Die Ausstellung „The Ultimate Capital is the Sun“ ist vom 20. September bis zum 16. November 2014 täglich von 12-19 Uhr, Do-Sa von 12-20 Uhr zu sehen, in der Oranienstr. 25 in 10999 Berlin-Kreuzberg. Mehr Infos unter www.ngbk.de

Fotos: Michael Bause

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