Weibblick - Magazin aus Frauensicht

Magazin aus Frauensicht

Absurde Hahnenkämpfe

In Wagah und Lahore, an der Grenze zwischen Indien und Pakistan, gibt es jeden Abend eine Grenzzeremonie

Da ist dieser Security-Mann in Militäruniform: braunes Hemd, Hochwasserhose, schneeweiße Gamaschen, rot-goldener Hahnenkamm auf dem Kopf, eine Art Federbusch auf der Soldatenmütze. Er geht durch die Reihen, bläst in seine Trillerpfeife, scheucht die Leute hin und her, lässt sie zusammenrücken, noch ein bisschen, immer enger.

Es ist heiß, es ist schwül. 40 Grad, 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Aber das macht nichts. Der Menschenstrom, der auf die Zuschauertribünen zurollt, reißt nicht ab. Es ist Mitte September, ein gewöhnlicher Wochentag, gegen 18 Uhr. Wir – meine Tochter, eine Freundin und ich – sind an einem ungewöhnlichen Ort: Wagah.

An der Grenze zu Pakistan

Wagah liegt im Norden Indiens, im Bundesstaat Punjub. Wagah ist kein Ort zum Wohnen, zum Leben, zum Arbeiten. Dort ist nichts – außer der Grenze zu Pakistan. Doch die macht den Ort so berühmt. Jeden Abend findet hier eine atemberaubenden Grenzzeremonie statt.

Meine Tochter studiert für ein paar Monate in Chandigarh, der Hauptstadt von Punjab und Haryana, ich besuche sie, und wir fahren 270 Kilometer mit dem Auto an den einzigen Grenzübergang von Indien nach Pakistan in der Region. Auf der anderen Seite, in Pakistan, liegt Lahore.

Es ist mehr als eine Tagestour nach Wagah, die indischen Straßen sind schmal und unbefestigt, die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt 60 kmh. Das hält die Inder trotzdem nicht davon ab, immerfort zu überholen, selbst an Stellen, die unübersichtlich und lebensgefährlich sind. Sie nennen das flyover, es fordert viele Verkehrstote.

So wie die Inder Auto fahren, so vollziehen sie ihre Grenzzeremonie: mit viel Wirbel, Krach und Tamtam. Die Sonne knallt erbarmungslos, der Schweiß läuft uns selbst an den Innenseiten unserer Schenkel herunter. Die Stimmung ist grandios. Gleich werden indische Soldaten aus dem Nichts auftauchen, zum Grenztor marschieren, salutieren, sich umdrehen und wieder zurückmarschieren. Mit Gesten und Beinschlenkern, die schon oft mit dem Silly Walk der britischen Komikergruppe Monthy Python beschrieben worden ist. Die Soldaten reißen ihre Beine hoch, krümmen sich, rasen zum Grenztor statt stolz zu marschieren. Sie gleichen Hähnen, die man auf einem verstaubten Marktplatz aufeinander hetzt. Sie bieten eine Show, wie man sie sonst nirgends auf der Welt erlebt.

Grenzzeremonie: Volksfest auf beiden Seiten

Genau das wollen die Leute sehen, deswegen pilgern sie allabendlich in Scharen hierher. Tausende Inder, aber auch jede Menge Touristen. Das Gleiche auf pakistanischer Seite. Der indische Security Officer pfeift und scheucht immer noch, es wird enger und noch heißer, lauter und schriller. Musik spielt, indische Frauen tanzen und singen. „Hindustan, Mutter Indien“ rufen die Menschen auf der indischen Seite. „Pakistan, Allahu Akbar“ auf der anderen. Es ist ein kultureller und religiöser Wettkampf: Wer ist lauer, wer kann es besser, wer ist stärker. Und es sind zwei große Volksfeste, auf jeder Seite eins.

Allmählich versinkt die Sonne hinter dem Grenztor, das Spektakel puscht sich selbst. Und es findet seinen Höhepunkt, als die letzten Soldaten, die bis ans Tor vorgedrungen sind, auf beiden Seiten die Nationalflaggen einholen und sich die Hände reichen – als Zeichen des Friedens zwischen den beiden zutiefst verfeindeten Atommächten.

Seit sich die Briten, die den Subkontinent lange besetzt hatten, 1947 zurückzogen, liegen Indien und Pakistan im Streit um die Grenzregion Kaschmir. Hari Singh, der damalige Herrscher in Kaschmir, schrieb sein Fürstentum Indien zu – gegen den Willen der damaligen mehrheitlich muslimischen Bevölkerung. Die Folge waren drei größere Kriege: 1948, 1965 und 1971. Beide Länder besitzen Atomwaffen – und die Vereinten Nationen daher eine ständige Beobachtermission.

Terror zerstört die Zeremonie

Bis auf kleinere Auseinandersetzungen ist es seit einigen Jahren ruhig in Wagah und Lahore, zwischen Indien und Pakistan. Das änderte sich vor ein paar Wochen, ausgerechnet kurz nach einer Grenzzeremonie. Am 2. November sprengte sich ein Selbstmordattentäter auf der pakistanischen Seite in die Luft. Es gab mehr als 60 Tote und üner 130 Verletzte.

Zu dem Anschlag bekannte sich die Terrorgruppe Jamaat-ul-Ahrar, die Teil des Militanten-Netzwerks Tehrik-i-Taliban Pakistan sein soll. Ein Sprecher der Gruppe kündigte gegenüber dem Nachrichtensender Dawn weitere Anschläge an. Im November fiel Zeremonie für drei Tage aus.

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